Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
Ohne dass sie uns daran die Schuld gibt. Ohne dass sie sich noch mehr von uns distanziert. Ohne dass sie ihre Drohung, von zu Hause abzuhauen, wahr machen würde. Mit der Zeit, da war ich mir sicher, würde sie es schon überwinden und die Band eher als Erfahrung abtun .
Das Gespräch mit Theo erscheint mir heute wie ein Traum, an dem ich nur als Beobachter teilgenommen habe. Ich kann nicht begreifen, dass es wirklich geschehen ist. Sein Verhalten erinnerte mich an einen Macho in jungen Jahren. Ich merkte sofort, dass er es nicht ernst mit Fiona meinte. Dass er das Ganze ziemlich locker sah und dass auch die neue Sängerin scheinbar wesentlich besser geeignet war als Fiona. Aber die Jungs hatten beschlossen, es mit beiden zu probieren. Mein Gespräch mit Theo war sozusagen ein Wink des Schicksals, ein Schubs in die Richtung, die sie sich noch nicht getraut hatten einzuschlagen.
Natürlich könnte ich mir einreden, dass sie sie sowieso irgendwann durch die andere Sängerin ersetzt hätten. Dass Theo so oder so etwas mit ihr angefangen hätte (und zum damaligen Zeitpunkt vermutlich auch schon hatte), aber es hat nie gereicht, um die Schuldgefühle abzuschütteln.
Wir hatten abgemacht, unser Treffen zu verschweigen. Niemand, vor allem nicht Fiona, sollte jemals davon erfahren. Und auch wenn er es natürlich merkwürdig fand, mit einer fremden Mutter so ein Gespräch zu führen, war er erleichtert. Jemand hatte ihm die Entscheidung abgenommen. Es war so einfach. Beinahe zu einfach. Ein fünfminütiges Gespräch zwischen zwei Fremden. Fünf Minuten, die alles zerstören sollten.
Ich erinnere mich an das Gefühl, mit dem ich nach Hause gefahren bin. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ja. Vor allem aber war ich erleichtert. Bald schon würde Fiona von ganz allein ihren Weg wieder finden. Sie würde sich wieder mehr dem Malen widmen und die Band mit der Zeit vergessen. Und irgendwann würde sie auch von ganz allein in der Schule besser werden. Da war ich mir sicher. Dass die Dinge nie wieder wie früher werden würden, habe ich mir damals noch nicht vorstellen können.
Du ahnst nicht, wie sehr ich mir mein Leben lang Vorwürfe deswegen gemacht habe, Armin. Immer und immer wieder dieselbe Frage: Was wäre gewesen, wenn ich nicht mit Theo gesprochen und er daraufhin nicht die Jungs gedrängt hätte, Fiona aus der Band zu werfen und es stattdessen mit Vera als neue Sängerin zu versuchen? Selbst wenn er auch neben der Band was mit Vera angefangen hätte – hätte Fiona nicht viel besser damit umgehen können, wenn sie ihren Platz in der Band behalten hätte? Hätte die Freude an der Musik dem Liebeskummer nicht die Macht genommen?
Tausendmal habe ich mir diese Frage gestellt und immer bin ich auf dieselbe Antwort gekommen: Es ist meine Schuld. Ich bin schuld daran, dass meine Tochter keinen anderen Ausweg mehr sah.
Vor ein paar Tagen war ich wieder bei ihm. Bei diesem Theo. Du hattest mir von dem Landschaftsbetrieb erzählt und es hat mich nicht mehr losgelassen. Ich hatte Angst, dass du alles erfahren würdest. Alles über das Gespräch, das damals zwischen uns stattgefunden hat. Ich hatte Angst, dass ich dich dadurch verlieren würde. Aber die Wahrheit ist (und das ist mir erst jetzt klar), dass ich selbst diejenige bin, die ich mit der Zeit verloren habe. Wegen einer Lüge, die ich seit einer unendlich langen, unverzeihbar langen Zeit, mit mir herumtrage.
Glaub mir, Armin, ich habe alles versucht, um mich dafür zu bestrafen. Habe mich gequält, mit mir gekämpft, Entscheidungen getroffen und sie in letzter Sekunde verworfen. Ich habe alles versucht. Aber dieses eine Stückchen, das meine Wahrheit erst vollkommen macht, habe ich bisher verschwiegen. Jedem. Auch dir. Dem Mann, den ich seit über dreiunddreißig Jahren liebe.
Ich möchte nicht länger mit dieser Lüge leben. Ich möchte, dass du mir verzeihst. Dass du mir nicht verzeihst. Dass du mich liebst. Dass du mich hasst. Dass du alles tust – nur bitte, bitte Armin, tu es mit mir zusammen. Ich möchte nicht mehr allein damit leben. Ich möchte diese Wahrheit nicht länger unvollständig lassen. Sie gehört zu mir so wie du zu mir gehörst. Ich bereue sie, aber ich kann sie nicht länger verleugnen.
Ich hoffe, dass du da bist, wenn ich wiederkomme. Nicht nur wegen Nathalie. Sondern wegen uns.
Ich brauche dich jetzt.
In Liebe
Dascha
Kapitel 15 : Wachsein
Meine Schritte sind lautlos, als ich die Seebrücke langsam hinter mir lasse. Der Wind
Weitere Kostenlose Bücher