Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
vergaß, dass das Leben kurz und Liebe etwas ist, das vergeht, wenn man sich nicht darum kümmert. Er begann zu vergessen, dass sein Ankommen hier war.
Die Mädchen gingen zur Schule, zum Sport, besuchten Freunde. Hatten eine schöne Kindheit, so sagen das doch immer alle, wenn alles nach Standards abläuft: Beide Eltern sind da, es ist kein Problem, eine Klassenfahrt oder eine neue Hose oder ein Pony zu bezahlen. Dann ist es doch eine schöne Kindheit. Wenn sie denn schön war, dann nur bis zu dem Moment, in dem der Mann Ende vierzig sein Glücklichsein vergaß und an dessen Stelle die Bank, das Streben nach mehr und noch mehr Geld und nach sich selbst setzte. Denn sich selbst, so hatte er das Gefühl, hatte er seit Jahren vernachlässigt.
Die Mutter des Mannes, grau geworden, habsüchtig und nie mit irgendetwas zufrieden, war gealtert. Er traute sich nicht, ihr zu sagen, dass ihm etwas gefehlt hatte. Er wagte es nicht, sie zu fragen, warum sie früher lieber in Barcelona als mit ihm die bitterkalten Winter verbracht hatte. Er saß nur gerade am Tisch und aß, was sie ihm gab, und antwortete auf ihre Fragen. Seine eigenen wagte er nicht zu stellen. Wahrscheinlich, weil er die Kälte nicht hätte ertragen können. Vielleicht, weil er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte, würde sie antworten, sie hätte ihn nie so geliebt wie er sie. Er schwieg. Einsam wie so oft. Seine Ehe zerbrechen sehend. Sein Glück davongehen sehend. Sich selbst nur in einem blinden Spiegel betrachtend.
Er war fest davon überzeugt, sich die ganze Zeit, all die Jahre selbst betrogen zu haben. Wollte er das jemals wirklich? Die Frau, die doch deutlich jünger war, die Kinder, die zwar zur richtigen Zeit kamen, aber ihm seine spärliche Freizeit raubten, die Hypotheken, die zu bewältigen waren, das Haus, das irgendwie ein Zuhause geworden war? Das, was immer zählte, für alle, die ihn umgaben, war doch nicht Glück. Es war eine Absicherung.
Das erste Mal, dass er sich für sich selber schämte, war am Geburtstag seiner Frau, als er ihr Geschirrhandtücher schenkte. Sie bewahrte die Fassung und freute sich sogar noch darüber. Er fühlte sich miserabel, weniger wegen ihr, mehr wegen sich selbst. Er war nicht einmal in der Lage gewesen, seine Arbeit, sein Geld, seinen Status in adäquater Weise allen Anwesenden zu präsentieren. Er sparte. Er sparte an Geld. Er sparte an Zuneigung. Und vor allem sparte er an Gedanken.
Er konnte sich nur selbst begreifen, wenn er die Medikamente einnahm, die er sich selbst verschrieb, um einsam von oben auf sich zu sehen. Von dort aus betrachtet sah alles so einfach aus. Er hatte Familie, Haus und Arbeit, und er hatte sich. Doch wenn er von unten schaute, dann sah er nur sich auf der einen Seite und auf der anderen die, die dazugehörten. Er fühlte sich ausgeschlossen.
Die Ehe zerbrach wie ein Glas, das jemand mit voller Absicht gegen eine Wand wirft. Es war vorhersehbar. Für ihn. Für sie. Für alle anderen nicht.
Gefühle splitterten in alle Richtungen, jemand trat hinein und verletzte sich. Ein anderer warf damit wild um sich, die Hände blutig, das Gesicht voll Schmerzen, nur um dem anderen mit den Überresten dieses Lebens wehzutun. Wenn einer zu Boden ging, trat der andere nach, um sicherzugehen, dass es auch wirklich Wunden hinterließ. Die Wunden wurden zu Narben. Und die sind bis heute geblieben.
Der Mann, der doch einmal glücklich gewesen war, flüchtete sich in Beipackzettel und Beischlaf, er trank viel und verlor sich in der Vorstellung, ganz neu, ganz von vorne anfangen zu können. Die Frau hatte die Kinder zu sich genommen, das war okay, er wollte ja frei sein, er brauchte doch auch sich selbst mal wieder.
Als die Einsamkeit und die Scham ob all der zerbrochenen Träume und all der Scherben und all der Narben, die für immer bleiben würden, einsetzten, traf der Mann eine neue Frau. Auch sie war deutlich jünger als er, hatte keine Kinder, war nie verheiratet, sie war das, was er sich wünschte. Ungebunden, nur verantwortlich für sich selbst. Und, als sie sich in ihn verliebte, nur seins. Seins ganz allein. Er musste sie weder mit den Kindern noch mit der Bank teilen. Er nahm die Medikamente, und als er sich von oben betrachtete, da war es einfach. Er hatte ein neues Leben. Er hatte sich von dem alten Dasein abgeschnitten, wie einem Raucher das thrombosegeplagte Bein amputiert wird. Es war faul, es war leblos, und es war ihm gefährlich geworden. Es musste weg.
Am Anfang brauchte
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