Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
er noch Stütze, die neue Frau konnte das, sie hatte zwei gesunde Beine, und sie wollte ihn, keine Kinder, nur ihn. Er fand sich in ihr wieder.
Während der Mann und seine neue Frau ein Haus kauften, sich Pferde hielten und versuchten, sein altes Leben in ihre Unterbewusstseins zu stopfen, lebten die Töchter und ihre Mutter wie in einer WG , was anders, schön und manchmal anstrengend war. Von Zeit zu Zeit weinten die Kinder heimlich, stritten und hassten sich, und es war wie in einem verrückten Theaterstück, in dem sich die Rollen der Eltern auf die der Kinder übertrugen.
Der Mann, tagsüber für seine Patienten und abends für seine Zweisamkeit glücklich, spürte nur in ruhigen Momenten, dass da etwas gewesen war. Dass dort eine Vergangenheit in seinem Gedächtnis wohnte, die er nur verstecken, aber nicht vergessen konnte. Manchmal passierte es ihm, wenn er im Auto saß, über die Landstraße fuhr und bei geöffnetem Fenster die frische Luft einatmete, dass er sich erinnerte. Er hielt dann am Straßenrand, legte die Arme auf das Lenkrad und atmete und atmete, um sich zu spüren. Manchmal weinte er heimlich unter der Dusche, weil er seiner neuen Frau die Tränen nicht zeigen konnte. Und wenn er dort so stand, das Wasser prasselnd auf den nackten, alternden Körper einschlug, dann dachte er an seinen Vater. Er erinnerte sich, dass er, im Gegensatz zu seinem Vater, seine Kinder nie geschlagen hatte, und die Tränen tauschten sich gegen das warme Wasser aus dem Duschkopf über ihm. Dann fühlte er sich besser, konnte sich in dem beschlagenen Badezimmerspiegel ertragen, nahm ein paar Tabletten und schlief ein. Doch nachts trieb es ihn in die Albträume, denn er wusste, dass Schläge genauso schlimm wie emotionale Tritte waren. Er war sich nicht gerecht geworden, denn er war nicht nur er für sich allein. Er war auch seine Töchter.
Die Jahre zogen sich dahin, der Mann verpasste sich neue Rezepte und ein neues Auto, und er verpasste seine Kinder, die längst keine mehr waren. Er wurde alt, und da er alles erst richtig und dann doch falsch gemacht hatte, beließ er es dabei.
Auf eine Annäherung seiner Töchter konnte er nur hoffen; dass sie ihm verzeihen würden, damit rechnete er nicht. Er hatte sie alleingelassen, und so war es nur eine einfache Konsequenz, dass sie ihn ebenfalls in Ruhe ließen.
Sie hatten ihn geliebt. Sie hatten ihn geliebt in einer Zeit, in der er sie nicht lieben wollte. Sie hatten ihn geliebt, so wie er damals seine Mutter geliebt hatte, die dies nie so erwiderte, wie er es sich gewünscht hatte. Jetzt saß er hier und wusste, er hatte zwei Leben gehabt. Das war eigentlich eine gute Sache, denn es passierten Glücksmomente genauso wie Rückschläge, mal entschied der Mensch eben nicht richtig und bereute dann später. Er hatte nie bereut, er hatte sich gehasst. Und genau deshalb konnte er nicht glücklich sein mit seinen zwei Leben. Denn er hatte das eine einfach abgeschlossen wie eine Kellertür und nie den Schlüssel wiedergefunden. Und er fühlte sich erbärmlich, denn er wusste, dass dort unten, in den Gewölben, Schätze lagen, mit denen er verwandt war.
Der alte Mann war einmal ein Papa. Jetzt ist er verschwunden und nur noch ein Vater.
Auf der Karte sind Luftballons und brennende Kerzen. Drinnen stehen Glückwünsche. Ich stecke die Karte wieder in den Umschlag und lege sie in den Karton, in dem ich alle Briefe und Karten von meinem Vater aufbewahre. Vielleicht tapeziere ich damit irgendwann mal das Bad, denke ich und schließe die Kiste.
Wer zuerst kommt, kommt zuerst
Ich sage es gleich zu Anfang. Dieser Text hat durchaus eine Metaebene. Sie ist schnell erläutert. Ich widme diesen Text allen Menschen, die nicht immer Erste sind und sich deshalb lediglich mit einer Urkunde für die «Erfolgreiche Teilnahme» abfinden müssen. Dieser Text ist für alle, die zuletzt in die Sportmannschaft gewählt werden, für alle, denen kein Stück Kuchen übrig gelassen wird oder die es schon weit über die Regelstudienzeit hinaus geschafft haben. Ihr seid toll!
«Erster!», jauchzt Per. «Ich komme gleich!», rufe ich ihm zu. Dann stehen wir schnaufend in der sich bewegenden U-Bahn. Manchmal ist so ein Wettlauf ganz gut, weil man die U-Bahn noch erreicht. Und man nicht dauernd zu spät kommt. Ich habe Per erst vor kurzem kennengelernt. Auf einer der zahlreichen Partys, die in der Neuner- WG stattfinden. Ich stand hinter der improvisierten Theke und Per davor. Bevor ich fragen konnte,
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