Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
wohl. Das Sterile erinnerte ihn an die Besuche in der väterlichen Praxis, und der Geruch des Desinfektionsmittels zeigte ihm ein ums andere Mal, dass etwas, das krank machte, einfach zu neutralisieren war.
Er fühlte sich mit den ihm anvertrauten Patienten verbunden. Sie waren auf ihn angewiesen, sie brauchten ihn, und er fühlte sich gebraucht. Das erste Mal in seinem Leben war er gewollt, er war wichtig, und das war
ihm
wichtig.
Er lernte eine Frau kennen, die deutlich jünger war, die ihn faszinierte. Sie war so unkompliziert, sie gab nicht auf, egal, was passierte. Er passierte ihr und war erstaunt, dass sie nicht an ihm verzweifelte, wie er es selbst ständig tat. Sie hielt ihn im Arm, als Patienten starben, sie küsste ihn wach, als er nicht aufstehen wollte, und als sie krank im Bett lag, da brachte er ihr Blumen und einen Eimer, damit sie nicht ins Badezimmer zu laufen brauchte, um sich zu übergeben. Wenn er einmal in seinem Leben nur ansatzweise an das Gefühl Liebe herangekommen war, dann war es mit diesem Menschen. Er fühlte sich wohl bei seiner Arbeit, er kam gerne nach Hause zu dieser Frau. Alles schien so leicht, die Mutter war weit weg. Was waren Einsamkeit und Geld gegen seine Arbeit und diesen Menschen? Nicht das, was er wollte. Und er bemerkte, dass er sonst nie etwas so sehr gewollt hatte wie seine Aufgabe im Krankenhaus und diesen anderen Menschen.
Der Junge, inzwischen Mitte dreißig, zog mit ihr in ein reetgedecktes Haus, in einem kleinen Ort, der endlich so etwas wie ein Gefühl von Zuhause in ihm erzeugte, obwohl er nicht daran glaubte, dass er wirklich jemals ankommen würde.
Sie blieb anfangs zu Hause, nicht, weil sie wollte, sondern, weil sie keine Arbeit fand. Ein Nachbar schenkte ihr einen Hund, der den Tag mit ihr verbrachte, wenn der Mann Mitte dreißig sich in der Klinik wichtig fühlen konnte. Abends saßen sie beieinander, im Sommer im Garten, im Winter vor dem Kamin. Als die beiden heirateten, stellten die Nachbarn den VW Golf der beiden mit Hilfe eines Krans auf den Schornstein des reetgedeckten Hauses. Die Zeitung berichtete.
In ihr wurde auch die Geburt der ersten Tochter, die bald darauf zur Welt kam, bekannt gegeben. Diese drei Menschen und der Hund zogen um in ein Reihenhaus in einer nahe gelegenen Kleinstadt. Weil es dort Arbeit gab für die zwei Menschen, die sich liebten. Weil es dort Platz gab, für die Tochter und den Hund.
Der Mann Mitte dreißig hatte nun also das, was er sich nie erdacht hatte. Er war nicht einsam, und er war selten allein, und wohlhabend war er auch nicht. Er fühlte sich glücklich. Er wunderte sich. Denn all das, die Einsamkeit und das Geld, brauchte er nicht, um sich glücklich zu fühlen. Er bemerkte, dass er nur sich selbst und damit alle anderen fühlte und dass dies genügte.
Doch seine Arbeit im Krankenhaus wurde zusehends anstrengender, denn er hatte eine kleine Tochter und eine Frau und einen Hund, denen er gerecht werden wollte. Die Verantwortung drückte ihn nieder, wie die Schwerkraft es ebenfalls tat, und er hatte das Gefühl, weder dem einen noch dem anderen entkommen zu können.
In einem März erzählte ihm die Frau, dass sie erneut schwanger geworden war, und er freute sich, denn er liebte sie. Er liebte sein erstes Kind, und er würde auch das zweite lieben. Die beiden bekamen wieder eine Tochter, und während die beiden Kinder wuchsen und mit Fingermalfarben die Fensterscheiben beschmierten oder Kaulquappen fingen oder Tuschebilder pinselten, beschlossen der Mann und die Frau, dass es an der Zeit sei, ein Haus zu bauen.
Sie bauten ein Haus, sie pflanzten Hecken und einen Kirschbaum, für die Töchter. Für sich. Für immer. Jedenfalls dachten sie das.
Der Mann, mittlerweile Mitte vierzig, ein Arzt in einer eigenen Praxis, wie sein Vater, arbeitete für seine Familie und für die Bank. Die Bank besaß das Haus und die Konten, die ständig gefüllt werden mussten. Auch die Frau arbeitete für die Bank und für das, was heißt, es besser zu haben.
Die Töchter streunten durch die Gegend und stahlen Kirschen, verdarben sich den Magen, verschwendeten ihre Jugend, weil es so am besten war. Der Hund spielte mit ihnen im Garten, aß unter dem Tisch, an dem gesessen und sich nicht angelehnt wurde, an dem es keine Ellenbogen gab, die sich abstützten. Und der Mann vergaß die Momente, in denen Geld und Einsamkeit keinen Wert gehabt hatten. Und er vergaß, dass er gegen all das angegangen war, was er damals erlebt hatte. Und er
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