Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
nicht heimisch werden. Es scheint im Rückblick, als hätten zu jener Zeit große Teile der Menschheit geglaubt, ihr Kopf sei vor allem zum Tragen von Krone oder Soldatenhelm geschaffen. Man schaute mit religiöser Ehrfurcht nach oben, in Richtung Himmel, oder mit mystischem Entsetzen nach unten, wo man die Hölle vermutete. Nur nach vorn schaute kaum einer. Die meisten fühlten sich als demütige Gäste auf Erden, aber nicht als Herren ihres eigenen Schicksals. Das Leben war eng, kurz und vorbestimmt. So glaubte man. Und weil man es glaubte, war es auch so. Das Wort » Selbstbestimmung « hatte noch niemand erfunden.
Selbst die Eliten lebten nicht nach vorn, sondern für den Augenblick, wenn auch auf deutlich höherem Niveau als die Feldarbeiterinnen. Aber das Fehlen einer ökonomischen Antriebskraft einte die Gesellschaft. Der Feudalismus war eine weitgehend stationäre Veranstaltung, in der die Eliten durch Eitelkeit, Faulenzerei, Obszönitäten und Frivolitäten, Kriegslust und soziale Grausamkeit auffielen, aber eben nicht durch technologischen Erfindungsreichtum und gesteigerte wirtschaftliche Produktivität. Wenn sie Wachstum sagten, meinten sie erobern und rauben, nicht erwirtschaften. Außer auf dem Gebiet der Künste hat sich der Feudalismus nur in der Militärtechnik und anderen Fertigkeiten, die der Eroberung dienten – der Schifffahrt, der Kartenkunde und der Navigation –, historische Verdienste erworben.
Der Kapitalist war von anderem Kaliber. Im Vergleich zu allem Vorherigen zeigte er sich als Freund des technischen Fortschritts, als jemand, der die Allmacht des Verstandes entdeckt hatte. Die größte Produktivkraft, so die Erkenntnis, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts wirkungsmächtig zu werden begann, schlummere im Innern des Menschen, der sich nur selbst von Mystik und Bequemlichkeit befreien müsse.
Der moderne, der aufgeklärte Mensch jener Zeit schaute nicht mehr nach oben oder unten, sondern endlich geradeaus, wie Egon Friedell in seiner » Kulturgeschichte der Neuzeit « erzählt. Er betrachtete die Welt nicht mehr als göttliche Gegebenheit, sondern » als einen Bauplatz für alles erdenklich Nützliche, Wohltätige und Lebensfördernde, ein unermesslich weites Operationsfeld für die Betätigung und Steigerung der Kräfte des reinen Verstandes, der sich alles zutraut, vor nichts zurückschreckt, durch nichts zu enttäuschen ist « .
Dieser angewandte Verstand denkt sich im 19. Jahrhundert durch alle Naturphänomene, versucht zu verstehen, zu entschlüsseln, nutzbar zu machen. Er sieht den Blitz und entdeckt den Strom. Er schaut auf das kochende Wasser und sieht plötzlich nicht mehr nur Dampf, sondern eine Energiequelle zum Betreiben von Maschinen. Im Innern der Erde vermutet er nicht mehr den Teufel, sondern Kohle und Eisenerz.
Auch wenn wir Pyramiden und Zikkurate, die Tempel Griechenlands und die Thermen Roms, die gotischen Dome und die Städte der Renaissance zu Recht bewundern, so entstanden doch 99 Prozent des heute gemessenen menschlichen Wohlstandes und dessen Basis – der Verbrennungsmotor und das Auto, die drahtlose Kommunikation, die Agrarchemie, die Produkte von Pharma- und Chemieindustrie, die Beherrschung von Licht und Welle – in weniger als einem Prozent der Menschheitsgeschichte.
Mit der Gemütlichkeit war es unter der nun beginnenden Herrschaft der Kapitalisten vorbei. Müßiggang wurde abgeschafft. Industrielle Imperien schossen aus dem Boden, die nicht auf ererbten Pfründen oder erbeuteten Ländereien beruhten, sondern auf echter Arbeit und der Vermehrung von Kapital. Ur-Kapitalisten wie August Borsig, ein Pionier des Lokomotivenbaus, oder Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, der Stahlindustrielle aus dem Saarland, der in Berlin als » Scheich von Saarabien « bezeichnet wurde, drängten auch in Deutschland die Menschen in die Fabriken, wo sie im Takt der Maschine zu funktionieren hatten, als wären sie selber eine. Es kam » zur Unterwerfung der Welt unter einen kalkulierenden geschäftlichen Rationalismus « , schreibt Jürgen Osterhammel in » Die Verwandlung der Welt « .
Überall im Westen wurden nun Maschinen mit Kohle, Erzen, Fett, Getreide, Baumwolle, Tabak und Holz gefüttert, bis sie am Ende Gewehre, Seife, Streichhölzer, Textilien, Zigaretten und Lebensmittel ausspukten. Es wurden Produktivitätsrekorde aufgestellt, die seither unerreicht geblieben sind. Die Eisenproduktion in Europa hat sich allein zwischen 1870 und 1890 fast verdoppelt, die
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