Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
Vorfahre des Marktwirtschaftlers. So wie im Wolf der Hund schon angelegt war, ist umgekehrt auch im Hund das Wölfische noch abgespeichert. Es wurde domestiziert, das haben wir eben gesagt. Nun müssen wir hinzufügen: Aber ausgerottet wurde es nicht. In jedem Hund steckt immer auch ein Wolf. Die eigene Vergangenheit steckt ihnen bildlich gesprochen noch in den Knochen.
Wer den Fortschritt verstehen will, den die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Marktwirtschaften für die Menschheitsgeschichte bedeuten, und wer zugleich ein Gefühl bekommen möchte für die Gefahren, die unserem heutigen Wohlstand drohen, sollte daher einen genaueren Blick auf den gemeinsamen Stammbaum von Kapitalismus und Marktwirtschaft werfen. Die Verwandtschaftsverhältnisse sind entscheidend. Sie helfen uns später, die neue Spezies zu verstehen, die unsere Gegenwart dominiert, die aus hybriden Verhältnissen entschlüpfte bastardisierte Ökonomie, von der noch ausführlich die Rede sein wird. Diese Spezies taucht in keinem Lehrbuch auf, wohl aber in unserem Leben.
Kapitalismus pur – von Monopolisten, Kartellbrüdern und Kriegsherren
Der erste Kapitalist betrat die Weltbühne im England des Jahres 1769. James Watt war sein Name. Er hatte die Dampfmaschine zwar nicht erfunden, wie ihm heute angedichtet wird, aber er hat es geschafft, sie industriell nutzbar zu machen. Zusammen mit einem gewissen Matthew Boulton gründete er die Firma » Boulton & Watt « . Der Partner brachte das Geld, Watt besaß die Ideen, geschäftstüchtig waren beide.
Sie wussten, was die Welt an ihrem Verfahren haben würde. Denn erstmals konnte jetzt im großen Stil Muskelkraft durch maschinelle Mechanik ersetzt werden. Die Arbeitsproduktivität in den britischen Textilmanufakturen explodierte durch den Einsatz der Dampfmaschine, die nun die Webstühle mit eiserner, aber deshalb auch besonders flinker Hand antrieb. Von dort sprang der Funke nach und nach auf alle anderen Branchen über. James Watt hat die Welt in Schwung gebracht wie niemand zuvor und wenige danach. Er war der Bill Gates der damaligen Welt.
Gewirtschaftet wurde schon vor Beginn des Industriezeitalters. Aber eben nicht so. Die Bauern rührten ihre Hände während der Vegetationsperiode von früh bis spät, waren im Winter aber nur wenig produktiv und im Wesentlichen mit Reparaturarbeiten und Saufgelagen beschäftigt. Die Händler, die man verächtlich » Pfeffersäcke « nannte, tauschten gemächlich ihre Waren, ohne auch nur das Geringste zu erfinden. Die Feudalherren in den Palästen und an den Höfen waren sich selbst genug. Man war protzig, aber man war nicht produktiv.
In der 150-jährigen Herrschaft der Fugger verharrte das Einkommen der einfachen Bevölkerung auf einem Niveau, das kaum mehr als die Versorgung mit den Gütern des Grundbedarfs sicherte. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das immerhin rund 800 Jahre währte, lebte die überwiegende Mehrzahl der Bauern und Handwerker von der Hand in den Mund. Eine schlechte Ernte reichte, um eine Hungersnot zu provozieren. Auch zu Zeiten von König Ludwig XIV . ist keine nennenswerte Steigerung der Volkseinkommen überliefert, wenn auch das Königshaus selbst nach unzähligen Eroberungskriegen in Saus und Braus lebte.
Katharina die Große mehrte zwar den Ruhm und die Kunstschätze Russlands, wie sie eindrucksvoll in der Eremitage von St. Petersburg dokumentierte, aber die einfachen Leute und auch die unteren Chargen des Staatsapparates profitierten davon kaum. Wie sollten sie auch: Das Wesen der Feudalherrschaft war über Jahrhunderte der ökonomische Stillstand. Es gab keine nennenswerten Erfindungen, die sich mit der Adelsherrschaft in Europa in Verbindung bringen lassen. Technologische Durchbrüche waren nur sehr vereinzelt zu vermelden. Abends saß man wie in all den Jahrhunderten zuvor bei Kerzenschein zusammen, die Menschen benutzten die Latrine, fuhren Pferdekutsche oder gingen auf » Schusters Rappen « .
Arme wie Reiche kämpften mit Flöhen und der Krätze, das Kindbettfieber raffte die Wöchnerinnen aller Gesellschaftsschichten dahin wie der Frost die Fliegen. Für das Jahr 1780 geht die Geschichtsforschung davon aus, dass 14 Prozent der Säuglinge unmittelbar nach der Geburt starben. Jedes dritte überlebende Kind verstarb bis zum Alter von 14 Jahren. Kindheit war noch nicht der Inbegriff von Unbeschwertheit, sondern die Chiffre für unverdientes Leiden, stumme Verzweiflung und frühen Tod.
Wohlstand konnte so
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