Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
Lebensform durch Mutationen oder Modifikationen aus heutigen Lebensformen entwickelt, so wie die heutigen aus vorherigen Lebensformen hervorgegangen sind, die Komplexität des Entstehens und Vergehens von Arten erklären.
Wir sollten » die Wirtschaft « ebenfalls weniger starr und mechanistisch betrachten. Sie ist – zumal sie im Kern aus nichts anderem als aus Menschen besteht, ihrer Arbeitskraft und ihren Ideen, ihren Bedürfnissen und Abneigungen – ein großer lebender Organismus, der, wie alle anderen Organismen auch, auf Veränderungen der Umwelt mit Verhaltensänderungen reagiert. Darwin würde von » Adaption « sprechen.
Gelingt dem Organismus diese Anpassungsleistung nicht oder zu langsam, so wie es den Dinosauriern im Übergang von der Kreidezeit zum Tertiär ergangen ist oder dem Malaria-Virus in Kontinentaleuropa nach der Entdeckung von Antikörpern, stirbt er aus oder führt ein Nischendasein. Jene Organismen aber, denen die Anpassung an veränderte Umstände am besten und schnellsten gelingt, werden belohnt. Sie vermehren sich häufiger als andere. Darwin nennt das » natürliche Selektion « .
Um die Welt der Ökonomie besser zu verstehen, sollten wir uns Darwins Bilder von der Evolution ausleihen. Die von ihm entdeckten Prinzipien von Adaption und natürlicher Selektion kennzeichnen nicht nur die Evolution von Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt, sondern auch die Art und Weise, wie unser Wirtschaftsorganismus sich entwickelt.
Verändert sich das Umfeld kaum, bleibt der Organismus stabil. Das trifft auf die westlichen Nachkriegsgesellschaften zu mit ihren anhaltend hohen Wachstumsraten und der stabilisierenden Wirkung der Blockkonfrontation zwischen Ost und West.
Wir leben heute in einer Zeit weltweit großer evolutionärer Dynamik, nicht erst seit der Finanzkrise. Die sowjetische Planwirtschaft, die nicht in der Lage war, ihre eigene Bevölkerung zu ernähren, musste weichen. Nicht Ronald Reagan oder Michail Gorbatschow haben der Sowjetunion das Todesglöckchen gebimmelt, auch wenn sie dafür vielerorts verehrt werden. Es war ein ökonomischer Auswahlprozess, der das entscheidende Wort sprach. Ein blühendes russisches Wirtschaftssystem hätte Reagan nicht totrüsten und Gorbatschow nicht preisgeben können.
Zugleich werden schnell lernende Systeme belohnt. Der chinesischen KP , die nach der pragmatischen Devise verfährt, » wenn etwas gut funktioniert, nennen wir es Kommunismus « , gelang es, ein Wirtschaftssystem neuen Typs zu etablieren. Der oft wiederholte Satz » nach dem Ende der Planwirtschaft fehlt dem Kapitalismus die Systemalternative « könnte falscher nicht sein.
In Wahrheit haben wir es mit einer nie da gewesenen Artenvielfalt der wirtschaftlichen Systeme zu tun. Von Putins Oligarchenwirtschaft über den Öl-Kapitalismus im Nahen Osten und in Venezuela bis zu den verschiedenen asiatischen Modellen einer dirigistischen Marktwirtschaft streut die ökonomische Variation.
Selbst innerhalb der westlichen Industriegesellschaften herrscht ein bunter Pluralismus. Man denke nur an die Unterschiede zwischen dem zentralistischen Frankreich und dem Deutschland des Föderalismus und des Mittelstandes. Oder an die Differenz zwischen Amerika und Europa. Darwins » Gradualismus « , der eine Veränderung des Lebens in oft kleinsten Schritten beschrieb, findet hier seine Entsprechung in der Welt der Wirtschaft.
Erzählt wird diese Evolutionsgeschichte in diesem Buch von allem Anfang an. Wir kehren zurück in die graue Vorzeit des Wolfskapitalismus, ziehen mit den Ölmagnaten, Industriebaronen und Börsenspekulanten an die frühen Siedlungsstätten unseres Industrialismus. Wir begegnen jener Zeit, als das System erstmals autoaggressive Verhaltensweisen zeigte. Über die Große Depression führte der Pfad zu Hitler und Roosevelt.
Von dort geht es in gleichermaßen dialektischer wie glorreicher Verkehrung des bis dahin Gewesenen zur Marktwirtschaft. In Deutschland schuf Kanzler Ludwig Erhard » Wohlstand für (fast) alle « , so wie sein amerikanisches Gegenstück Präsident Lyndon B. Johnson die » Great Society « begründete, die amerikanische Ausgabe eines Sozialstaates. Unter dem Eindruck steiler Wachstumsraten mutierte der kapitalistische Wolf zum marktwirtschaftlichen Haushund, der dem Menschen nahe und nützlich sein will. Viele glauben seitdem, die Domestizierung sei unumkehrbar. Und wer das nicht glaubt, der hofft zumindest.
Als sich die hohen Wachstumsraten der Nachkriegsjahre
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