Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
Wachstum. Arbeitseifer, Fleiß, Leistungswille, Pflichtbewusstsein, das waren die bürgerlichen Kerntugenden, an denen sich alle, auch die Industriearbeiter, orientierten.
Es sah zwar so aus, als würde der Kapitalist nur seiner Klasse selbst dienen. Und am liebsten hätte er das auch getan. Aber die Verhältnisse waren längst außer Kontrolle geraten. Die Öffnung der Gilden und Zünfte ermunterte jedermann zur Selbständigkeit. Die nun erstmals geltende Gewerbefreiheit – in Deutschland von den aufgeklärten Monarchen des Preußenstaates eingeführt – lockte junge Talente. Mit der Aufhebung der Beschränkungen beim Kauf und Verkauf von Grund und Boden war der Immobilienmarkt geschaffen. Und, nicht zu vergessen: Erst die Abschaffung von Fronarbeit und Leibeigenschaft und damit verbunden die Gewährung eines Rechts auf freie Berufswahl konnten die Arbeiterklasse hervorbringen, ohne die der Kapitalist sich nur selbst hätte ausbeuten können.
Die Bürgerliche Revolution war also zugleich auch eine kapitalistische Revolution. Es bildete sich ein » Wirtschaftsbürgertum « heraus, dem Kaufleute, Industrielle, Bankiers, leitende Angestellte und selbständige Handwerker angehörten. Der Bildungsbürger hatte auf der politischen Bühne und in der Administration seinen großen Auftritt. Der Wirtschaftsbürger derweil wandte sich der Produktionsbasis zu. Nur gelegentlich, so als das altsprachliche-humanistische sich mit dem neusprachlich-naturwissenschaftlichen Gymnasium konfrontiert sah, kamen sich die beiden in die Quere.
Das Wort » Selbständigkeit « aber nahmen beide Fraktionen für sich in Anspruch. Unter diesem Banner konnte sich die Bürgerliche Revolution, die im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts auf der Straße, in Deutschland zunächst nur in den Köpfen stattfand, jederzeit versammeln. Die bürgerliche Gesellschaftsformation begann zu sprießen, derweil der Feudalstaat zur gleichen Zeit verwelkte. Oder, wie es im » Kommunistischen Manifest « von 1848 hieß: » Alles Ständische verdampft « .
Es kam zur Umdeutung von Werten. Plötzlich wurde Müßiggang nicht mehr mit Nachdenklichkeit, sondern mit Faulheit gleichgesetzt. Bildung war nicht länger der Zeitvertreib von reichen Schnöseln, sondern wurde der Treibstoff für ein besseres Leben. Wissen und Wohlstand begannen heftig miteinander zu reagieren, geistige Armut und materielle Armut auch. Der von Geburt sozial Privilegierte und der körperlich Starke verloren ihren Platz an der Spitze der Pyramide, weil nun die Kohorten der Erfindungsreichen und Gebildeten nach vorne drängten. Damit war auch die frühe Saat für die späteren Erfolge der Frauenbewegung gesät, denn die Höherbewertung der geistigen vor den körperlichen Kräften unterstützte das natürliche Recht der Frauen auf Gleichberechtigung.
Das Bürgertum begann seine Laufbahn als Massenkonsument. Tee, Kaffee, Tabak und Schokolode – eben noch eine Rarität, vorbehalten vor allem den Aristokraten – hielten Einzug in den Haushalten von Millionen. Allein die Briten, die 1840 pro Kopf keine 700 Gramm Tee verbrauchten, erreichten 1870 einen Teeverbrauch von rund 2500 Gramm pro Kopf. Im Deutschland des Jahres 1840 entfielen auf jeden Bürger nur 1,1 Kilogramm Kaffee. Zur Jahrhundertwende waren es bereits 3 Kilogramm. (Heute sind es 6 Kilogramm.) Der Zuckerverbrauch in England konnte sich zwischen 1820 und 1910 von zwei Kilogramm auf 20 Kilogramm verzehnfachen, der Fleischverbrauch hat sich im selben Zeitraum von 15 Kilogramm pro Kopf auf 45 Kilogramm gesteigert.
Der Kapitalismus war archaisch, wölfisch, ungerecht, aber zugleich brachte er wie kein System zuvor einen Wohlstand hervor, wie ihn die Welt bis dahin noch nicht erlebt hatte. Über das Steuersystem saugte die Staatlichkeit aus dem sich vergrößernden produktiven Kern des Landes Energie ab. Auch die Amts- und Würdenträger glühten vor Glück.
Das kleine Inselvolk der Briten stieg mit Hilfe der neuen Kapitalistenklasse in den Olymp der großen Nationen auf. Der Kapitalismus hatte nicht nur die materielle Grundlage für ihre Welteroberung gelegt, er führte so auch zu einer moralischen Erhebung. Im Mutterland des Kapitalismus traten die technologischen Durchbrüche damals derart gehäuft auf, dass die britische Oberschicht glaubte, die Briten seien ein von Gott auserwähltes Volk.
An Beweisen schien kein Mangel: Königin Victoria war die erste Monarchin, die gegen Pocken geimpft wurde. Sie war die erste, die 1842 mit der
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