Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
Eisenbahn fuhr. Sie schickte als erste ein Telegramm über den Atlantik nach Kanada. Und: Sie ließ die Titanic bauen, jenen 269 Meter langen Ozeanriesen, der zum Wahrzeichen der neuen Zeit werden sollte.
Das » Viktorianische Zeitalter « ließ das zahlenmäßig kleine, wirtschaftlich aber starke Inselvolk über den Rest der Welt triumphieren. Aus Kaufleuten waren Kolonialisten geworden. 458 Millionen Menschen zählten schließlich zum Commonwealth, was wörtlich übersetzt » Gemeinsamer Wohlstand « bedeutet. Auf dem Höhepunkt des Kolonialismus herrschten die Briten, die nur 2,4 Prozent der Weltbevölkerung stellten, über 25 Prozent der Weltpopulation.
Das verdankten sie nicht wie in früheren Epochen zuerst den Militärs, sondern einer kapitalistischen Massenproduktion, die mit ihren hohen Profitraten die Voraussetzung für alles weitere schuf. Sie sorgte für das nötige Geld, um andauernd Kriege zu führen, und brachte jene Waffentechnologie hervor, die auf den Schlachtfeldern Überlegenheit garantierte.
500 Schuss pro Minute schafften die vom amerikanisch-britischen Erfinder und Konstrukteur Hiram Maxim produzierten Maschinengewehre. Dagegen hatten die Einwohner Indiens und Afrikas mit ihren Macheten, Speeren und Vorderladern keine Chance. Bei einer Schlacht im Sudan fielen im Jahr 1898 knapp 10 000 afrikanische Aufständische, aber nur 50 Briten.
So hielt der Kapitalist dem Kolonialisten die Steigbügel – und umgekehrt. Wer auf sich hielt, nannte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts » Imperialist « . Das war zu jener Zeit kein Schimpfwort, sondern eine Art Selbstverpflichtung. Nicht ohne Ironie gab der 1867 in Chicago geborene amerikanische Schriftsteller Finley Peter Dunne den Ton seiner Zeit wieder: » Wenn ihr bei den Chinesen seid, sagt der deutsche Kaiser, dann spießt mit euren Bajonetten jeden verhassten Ungläubigen auf, der euch über den Weg läuft. Wenn ihr zufällig nebenbei ein Stückchen Land findet, dann lasst es euch von keinem Franzmann oder Russen wieder wegnehmen. «
Jetzt endlich konnten jahrhundertealte Welteroberungsfantasien ausgelebt werden. Jeder verdächtigte den Nachbarn, nach Hegemonie zu streben, und, um ihm zuvorzukommen, setzte man lieber selbst die Armee in Bewegung. Das von George W. Bush geprägte Wort vom » preemptive strike « , dem » vorsorglichen Angriff « , war noch nicht erfunden. Aber es spukte schon in den Köpfen der damaligen Eliten.
Im kurzen Zeitraum zwischen 1875 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde ein Viertel der Erdoberfläche von einem halben Dutzend Industriestaaten besetzt. England vergrößerte sein Territorium um rund 10 Millionen Quadratkilometer, Frankreich seines um knapp 9 Millionen Quadratkilometer, Belgien und Italien schnappten sich jeweils 2,5 Millionen Quadratkilometer. Das Deutsche Reich war ein imperialer Spätzünder, weshalb es sich nur ein zusätzliches Territorium von 2,7 Millionen Quadratkilometern einverleiben konnte. Der » Platz an der Sonne « , nach dem Wilhelm II . rief, war nur noch ein Plätzchen.
Die große Rücksichtslosigkeit und die Rolle der Banken
Der wichtigste ökonomische Grund für die aufsteigenden Nationen jener Zeit, in die entlegenen Gebiete der Welt vorzudringen, war der Rohstoffhunger der neuen Fabriken. In der Stahlproduktion wurden Eisenerz, Kohle und Mangan benötigt, die Autoproduktion verlangte nach Kautschuk, die entstehende Elektroindustrie konnte ohne Nachschub an Kupfer und Zinn nicht leben. Und alle zusammen dürsteten nach Erdöl.
Den weitgehend rechtlosen Arbeitermassen in den heimischen Großbetrieben brachte der Wettlauf der früh industrialisierten Staaten zu den Lagerstätten der Rohstoffe zunächst nicht viel. Für den Hang zur Kartellbildung zahlten die Arbeiter mit höheren Preisen, für den Eroberungsdrang in fernen Gefilden mit ihrem Blut.
Ein System, das Effizienz und bescheidenen Wohlstand versprochen hatte, produzierte plötzlich Mord und Totschlag. Die Welt lernte eine bittere Lektion über das Wesen der Konkurrenz: Findet sie ungeordnet und unbeaufsichtigt statt, entstehen nicht Wohlstand und Reichtum, sondern Krieg und Zerstörung. Der Kapitalismus lebte im Nationalismus seine wölfische Aggressivität hemmungslos aus.
Wann immer die Lage unserer heutigen Wirtschafts- und Sozialordnung uns zwingt, an die graue Vorzeit der Weltwirtschaftsgeschichte zurückzudenken, ist es diese genetische Disposition, der » animal spirit « , wie Keynes ihn nannte, der ins Auge
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