Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
seien. Das sind sie nicht. Die ökonomischen Zustände unserer heutigen Welt sind weiterhin von Rauschhaftigkeit geprägt. Das Auto-Aggressive ist in unsere Wirtschaftsordnung zurückgekehrt. Die Pleite des Bankhauses Lehman, die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands und der Einsatz der Rettungsbillionen zur Stabilisierung der Weltwirtschaft waren nicht die Höhepunkte eines Dramas, sondern dessen Präludium.
Dieses Buch versucht, Komplexität zu reduzieren, aber nicht um den Preis der Simplifizierung. Deshalb wird die Entwicklung unseres Wohlstands nicht nur bis zum Krisenjahr 2008 zurückverfolgt, sondern bis zu seinen Quellen. Nur wenn wir durch das Fenster der Geschichte blicken, können wir den Charakter der krisenhaften Erscheinungen von heute verstehen.
In Kapitel 1 bis 4 schauen wir auf die Anfänge des Kapitalismus und die wesentlichen Treiber unserer Wohlstandsentwicklung. Wir gehen neben dem langen Fluss der Geschichte her bis zu jener Gabelung, an der wir heute stehen: Die Widersprüche der Marktwirtschaft aushalten oder den Verlockungen eines » staatlich-finanzwirtschaftlichen Komplexes « nachgeben? Die ausführliche Schilderung der Ereignisse in den USA – von der Großen Depression bis zum Immobilienprogramm der Präsidenten Clinton und Bush junior – ist dabei ein unverzichtbarer Bestandteil der Aufarbeitung. Denn hier nahm das neuzeitliche Unheil seinen Lauf. Ohne die abknickenden Wachstumsraten der siebziger Jahre und das besondere Verständnis der USA von einer privat finanzierten Sozialpolitik hätte die Immobilienblase niemals entstehen können. Ohne die Immobilienblase wäre es nicht zur weltweiten Bankenkrise gekommen. Ohne Bankenkrise kein Griechenland-Drama mit angeschlossener Euro-Rettung. Allerdings: Einer soliden Staatsfinanzierung in Europa hätten auch die Ereignisse in Übersee nichts anhaben können. So aber arbeiteten Europäer und Amerikaner mit vereinten Kräften und umso wirksamer am Zustandekommen einer bastardisierten Ökonomie als Grundlage des perfekten Angriffs auf unseren Wohlstand.
In Kapitel 5 werden die unbequemen, auch die schmerzhaften, vor allem aber die notwendigen Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen unserer Wohlstandsgeschichte gezogen.
Es steht mehr auf dem Spiel als die Stabilität der europäischen Währung. Wenn der Rückkehr des Wölfischen kein Einhalt geboten wird, dürften der Zusammenhalt der europäischen Gesellschaft, ihre freiheitliche Substanz, das Streben nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit einmal mehr einem historischen Stresstest unterzogen werden. » Die Geschichte selbst hat weder ein Ziel noch einen Sinn « , rief uns Karl Popper in »Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde « mit der ihm eigenen Deutlichkeit zu. Und fügte allerdings in tröstender Absicht hinzu: » Aber wir können uns entschließen, ihr beides zu verleihen. «
Daran will dieses Buch mitwirken.
Gabor Steingart, Februar 2013
Kapitel 1 – Urknall. Vom Entstehen des Kapitalismus und was ihn von der Marktwirtschaft unterscheidet
Glühbirne, Dampfmaschine und Telegrafenmast: Das Jahrhundert der Erfinder bringt Wohlstand und Wolfskapitalismus hervor. +++ Das Primat des Profits, und warum der Staat anfangs nur eine Statistenrolle spielt. +++ Kapitalismus erzeugt Krieg und zerstört die Konkurrenz, also auch sich selbst. +++ Was die Schlachthöfe im Chicago des 19. Jahrhunderts mit dem iPhone-Hersteller Foxconn in China verbindet.
Kapitalismus und Marktwirtschaft – ziemlich entfernte Verwandte
Um den Ruf unserer Marktwirtschaft ist es nicht gut bestellt. Die permanente Banken-, Euro- und Staatenrettung, bei zeitgleich sich beschleunigendem Dauerrisiko in der Arbeitswelt hat dem Ansehen unserer Wirtschaftsordnung nicht gutgetan.
Doch wir sollten der Treibjagd auf die Marktwirtschaft Einhalt gebieten, wenigsten für die Dauer der hier vorliegenden Lektüre. Plädiert sei für ein Moratorium, für einen zeitlich befristeten Empörungsaufschub. Denn mag unser Zorn auch berechtigt sein – und wer wollte das angesichts der zahlreichen Missstände ernsthaft bestreiten –, sorgen die feindseligen Emotionen womöglich für eine fehlerhafte Analyse. Denn Marktwirtschaft und Kapitalismus sind beileibe nicht dasselbe. Sie sind sogar höchst verschieden, stehen zueinander in einem ähnlichen Verwandtschaftsverhältnis wie der Haushund zum Wolf.
Der Wolf – canis lupus – ist das ewige Raubtier. Der Mensch und er sind, kaum dass man einander zu nahe kommt, Rivalen im
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