Unsere Oma
dem Toben mit Grauen zu. Wie leicht hätte es sie treffen können! Oma hakte ihren Zopf vom Zaun und befestigte ihn mit Haarnadeln am Kopf.
»Uff«, sagte sie, »das ist noch einmal gut gegangen. Das Leben ist doch recht gefährlich. Es ist wohl besser, wir gehen erst mal wieder nach Hause. Ich muß mir auch ein neues Strickzeug holen. Was meinst du?«
Jan konnte nicht sprechen; der Schreck hatte ihm die Stimme verschlagen. Er nickte nur.
Als sie nebeneinander auf der Landstraße dahingingen, sagte Oma nachdenklich: »Ich glaube, wir schieben das Auswandern etwas hinaus. Vielleicht ist es besser, wenn wir erst noch ein bißchen Erdkunde und Englisch lernen.«
Jan fiel ein Stein vom Herzen. Nur eine Sorge bewegte ihn. Wie würde man sie zu Hause empfangen?
Zu seiner Überraschung sagte niemand etwas. Sie kamen kurz vor dem Abendessen an, und der Tisch war schon gedeckt. Mutter fragte seltsamerweise: »Na, war’s schön?«
Daß Jan beim Essen schweigsam war, fiel bei dem Geplauder der Geschwister nicht auf. Er war todmüde und ging sehr früh ins Bett. Als er sich in den weichen Kissen ausstreckte, dachte er schaudernd, wo er sich wohl jetzt schlafen legen müßte, wenn Oma nicht auf den Gedanken gekommen wäre, wieder nach Hause zu gehen.
Oma half Mutter beim Abwaschen.
»War euer Ausflug schön?« fragte Mutter.
Oma nickte. »Könntest du mir bitte den Zettel geben, den ich dir heute morgen auf den Tisch gelegt habe? Auf der Rückseite ist eine Rechnung, die ich noch brauche.«
Mutter holte aus der Schürzentasche ein Stück Papier und reichte es Oma. Darauf stand: »Ich mache mit Jan einen Tagesausflug. Zum Abendessen sind wir wieder zurück. Oma.«
Die Party
Es war gemütlich in der Küche. Mutter rührte einen Kuchenteig, Oma schnipselte Bohnen, Brigitte machte Schularbeiten, und Peter malte ein Bild von Oma.
»Ha«, sagte Brigitte zu ihm, »deine Oma hat ja nur Kopf und Beine, gar keinen Bauch. Wohin tut sie denn das Essen?«
»Ins Kinn«, brummte Peter und zeichnete die Zehen an Omas Fuß.
»Ha«, sagte Brigitte noch einmal, »du malst der Oma ja sieben Zehen an einen Fuß!«
»Mach deine Schularbeiten und laß Peter in Ruhe!« rief die Mutter.
Peter streckte Brigitte die Zunge heraus und malte sorgfältig noch einen achten Zeh an den Fuß.
»Ich denke es mir hübsch, sieben Zehen zu haben«, sagte Oma. »Man kann damit bestimmt schneller laufen als mit fünf.«
Jan polterte zur Tür herein und schleuderte seine Schulmappe auf einen Stuhl. »Tag!« rief er in die Runde und zu Oma gewandt: »Hallo, old girl!«
»How do you do?« sagte Oma. Sie sprachen neuerdings Englisch miteinander, um für Amerika zu üben.
Jan schnupperte. »Was ist denn los? Warum bäckst du Kuchen, Mutter?«
»Heute ist doch Heiners Party«, rief Brigitte aufgeregt. »Heute kommen seine Tanzstundenfreunde, da gibt es Kuchen und belegte Brötchen und Bohnensalat.«
»Heiners Party!« sagte Jan verächtlich. »Der gibt ganz schön mit seiner Party an. Er hat zu mir gesagt: >Wehe, wenn du dich bei uns blicken läßt. Kinder haben bei einer Party nichts zu suchen!<«
»Kriegen wir keinen Kuchen, wenn wir nicht ‘rein dürfen?« fragte Brigitte enttäuscht.
»Wahrscheinlich wollen die alles allein auffuttern«, meinte Jan bitter. »Deshalb sollen wir nicht ‘rein. Und weil wir angeblich kein gutes Benehmen haben. Aber warum will er Oma nicht dabei haben? Oma ißt doch gar nicht so viel und hat ein sehr gutes Benehmen.«
»Heiner wird sich seiner Großmutter nicht zu schämen brauchen«, sagte Oma.
»Gehst du ‘rein?« riefen Jan und Brigitte.
Oma nickte. »Natürlich! Jemand muß doch die jungen Leute begrüßen. Und da die Eltern und Ingeborg heute abend beim Herrn Apotheker zum Musizieren sind, werde ich diese Pflicht übernehmen. Ich bin dann die Anstandsdame.«
Wenn einer von den Kleinen heute Heiner über den Weg lief, wurde er angebrummt: »Lauft mir doch nicht dauernd zwischen die Beine. Ich hab’ schließlich was zu tun — laßt eure dummen Fragen, ich hab’ gar keine Zeit — , wehe, wenn ihr euch heute abend blicken laßt oder Lärm macht!« So aufgeregt war Heiner. Er machte in der großen Stube einen Platz zum Tanzen frei und stellte die Sessel an die Wand. Er suchte Grammophonplatten hervor und verteilte Aschenbecher auf den Tischen. Als er fertig war, betrachtete er sein Werk und räumte dann alles noch einmal um. Beim Mittagessen war er schweigsam. Schließlich fragte er: »Vater, borgst du
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