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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Tschelcher genauso ansprang wie wahrscheinlich auf jeden anderen Einwohner im Umkreis von dreißig Kilometern.
    «Wir haben sowieso zu wenig Leute, kaum Nachwuchs, die hauen alle ab aus der Gegend», beklagte Tschelcher sich. «Da fehlt uns natürlich jeder Mann, und der David war immer einer von denen, die da waren, egal, wann, egal, wo, der war am Start. Läuft ja alles ehrenamtlich hier, sonst ginge das gar nicht», betonte Tschelcher, nachdem er sich den Schweiß mit einem karierten Taschentuch von der Stirn gewischt hatte. «Ich hab ja zu den anderen gesagt, der junge Wester, der hat was kennengelernt, ich mein, hab ich gesagt, das wurd doch auch Zeit. Der geht auf die vierzig zu und immer noch kein Mädchen und dann allein da am Waldrand auf dem alten Schafshof. Also, eigentlich ist es ja kein Hof, sondern so was wie eine Jagdhütte, aber wegen dem Schafsteich nennen es alle den Schafshof. Da kannst du nicht bleiben, habe ich dem David gesagt, wenn du ein Mädchen halten willst, musst ein bisschen was bieten, aber er hat gesagt, es ist kein Mädchen, weshalb er keine Zeit mehr hat. Er hat einfach so viel Arbeit, weil sie ihm jetzt auch noch Sachsen-Anhalt aufs Auge gedrückt haben.» Mit jedem Wortschwall traten neue dicke Schweißperlen auf die rosige Stirn des Mannes. Stella bot ihm einen Schluck Wasser an, sie hatte sich die Flasche an einer Tankstelle, wo sie nach dem Weg gefragt hatten, gekauft und sie noch nicht geöffnet.
    «Wollen Sie mich vergiften?», fragte Tschelcher griff in eine Kühltasche hinter dem Sitz des Mähers, um sich ein kühles Pils hervorzuholen. Mit ein paar kräftigen Schlucken leerte er fast die halbe Flasche und wurde noch mitteilungsbedürftiger. Der Junge sei vom Schicksal nicht gerade verwöhnt gewesen. Zuerst die Sache drüben, und dann sei er ein paar Jahre endlich bei den Eltern gewesen, und dann die Sache mit der Gasexplosion.
    «Die Sache drüben?», fragte Stella.
    Tschelcher senkte die Stimme, als befürchtete er, abgehört zu werden. «Die Familie stammt doch aus der Zone. Wir sagen immer noch Zone, wir Alten, ist so drin», lachte Tschelcher. «Die Westers sind aus der DDR geflüchtet, aber der Junge ist zurückgeblieben, nicht absichtlich, das ist irgendwie schiefgelaufen. Der arme Kerl ist in einem von den Heimen aufgewachsen, Sie wissen schon, so richtiger Kinderknast, kam neulich noch bei
stern tv
im Fernsehen, der David hat nie darüber geredet, kein Wörtchen, und sauer ist er geworden, wenn ich ihn gefragt habe. Über den Kerl im Fernsehen, der den Jauch abgelöst hat, hat er geschimpft, der habe ja keine Ahnung, scheiß Mitleidstour, hat er gesagt. Na ja, ich hab ihn in Ruhe gelassen, der kann ja schnell aus der Haut fahren.»
    «Die Eltern haben ihn nicht rübergeholt?»
    Tschelcher zeigte ihr ungeniert einen Vogel, entschuldigte sich aber sofort und erzählte etwas von Republikflucht, keine Chance und so weiter, genau wusste er es aber auch nicht, er habe es ja nicht von den Westers erfahren, sondern viel später von David.
    «Thorsten und Petra haben sich dann hier was Neues aufgebaut, zwei Prachtkinder, und der Thorsten, also der Vater vom David, ist sogar Betriebsleiter bei GROSSE & GROSSE gewesen, Edelstahltöpfe und solche Sachen. Und keiner hat gewusst, dass die in der Zone noch ’nen Jungen haben. Richtig eingerenkt hat sich das nie mit denen.»
    «Was meinen Sie damit?»
    «Na, der Junge war ja schon achtzehn, als er direkt nach der Wende hierher ist, und das war schwierig, schwierig, sag ich Ihnen. Der war lieber bei uns im Verein und bei den Johannitern als zu Hause, und nach nich’ mal einem Jahr ist er in die Hütte gezogen und dageblieben. Sonst wär er vielleicht auch auf dem Friedhof. Ist mitten in der Nacht passiert, die Sache mit dem Gas.»
    Über die
Sache
mit dem Gas gab es eine Ermittlungsakte der Coburger Kriminalpolizei, die aber ziemlich schnell geschlossen worden war. Die Ergebnisse der Brandtechniker waren eindeutig, trotzdem hatte Prinz Stefan noch einige Zeit ein Auge auf David Wester geworfen. Er hatte Muthaus nicht erklären können, was ihn dazu bewogen hatte, aber einige Reaktionen Westers hatten zumindest ein fahles Licht auf den ältesten Sohn der Verstorbenen geworfen.
    «Er ist auch Mitglied im Schützenverein?», fragte Stella. Davon hatte Muthaus nichts gesagt. Eine Nachlässigkeit, die der kurzen Zeit, die zur Verfügung stand, geschuldet sein mochte, allerdings auch eine Nachlässigkeit, die das Leben eines Kollegen

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