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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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einen Bauernhof schicken lassen. Düngemittel, aus denen man Bomben bauen konnte.
    «… nicht nur ein Bauernhof …», lachte er, «… ein
Bio
bauernhof. Ist das zu fassen. Er hat alles von langer Hand vorbereitet, und keiner ist ihm auf die Schliche gekommen. Keiner. Die Nachbarn haben danebengestanden. Weißt du, was er gesagt hat?»
    Woher denn, du Dreckskerl?
    «Die Tat war grausam, aber notwendig.»
    Er schwieg eine Weile, und es schien, als denke er über etwas nach. Dann seufzte er und sagte: «So ist das manchmal.» Und schwieg. Es lag zu viel Wohlwollen in diesen vier Worten. Wohlwollen und Zustimmung. Rechtfertigung.
    Ich wusste sehr genau, was er damit meinte. Nein, nein, nein!, schrie es in mir. Jede Tat ist grausam und keine notwendig. Auch deine Tat ist nur grausam. Nicht notwendig.
    Statt mich auf ihn einzulassen, überbrückte ich die Stille mit der roten Grütze aus dem Kühlfach des Supermarkts. Das Preisschildchen hatte er entfernt. Er entfernte sorgfältig alle Hinweise, woher die Lebensmittel stammen konnten.
    Die Vanillesoße war in einem Extrafach, das man umknicken musste. Ich mochte Vanillesoße nicht einmal in der hausgemachten Form von meiner Mutter, aber ich kippte die gelbliche Flüssigkeit in den Becher. Solange ich hier saß, würde ich alles essen.
    «Was meinst du, wie böse ein Mensch sein kann?», fragte er plötzlich.
    Ich musste mich beherrschen, um ihn nicht anzuschreien.
    Schau dich selbst an. Reicht das nicht?
    Ich schwieg.
    «Ein christlicher Fundamentalist war dieser Norweger», sagte er und dass die Christen offensichtlich noch immer zu allem in der Lage seien. Bald würden sie auch wieder Hexen verbrennen. «Sind die Brüder des Lichts nicht auch so ein Verein?»
    Keine Antwort. Mein Vater war vielleicht ein engstirniger, verblendeter Kerl, aber ich sah ihn nicht mit einer Flinte auf Kinder schießen. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, dass er vor der Tür stand, an seiner Weste schubberte, oder im Hausflur auf mich wartete, wenn ich auch nur ein paar Minuten zu spät kam. Eine absurde Vorstellung, dass Horst Sonnleitner auf einer Insel Jagd auf Kinder machte, fast musste ich lachen, aber ich verkniff es mir. Kein Lachen, keine Tränen.
    Selbst als er mir ein paar Tage zuvor brutal den Kiefer aufgedrückt und mit dem Wattestäbchen in meinem Mund herumgefuhrwerkt hatte, war es mir gelungen, die Tränen und die Wut zu unterdrücken.
    Warte ab, hatte ich mir still eingebläut, warte ab. Deine Chance wird kommen. Und ich wusste auch schon, wie. Er musste mir nur noch einmal meine Rationen für mehrere Tage bringen.
    Schon eine halbe Stunde später ging mein Wunsch in Erfüllung.
    Er betrat ohne Vorwarnung den Raum. Trotz meines Schweigens schien er sich weniger Sorgen zu machen. Die Angst, ich könnte ihn anfallen und einen Fluchtversuch unternehmen, war verflogen. Er ließ sogar die Tür offen, als er das Chemieklo austauschte.
    Die abgepackten Lebensmittel auf dem Tablett reichten mindestens für drei oder vielleicht sogar vier Tage. Zuletzt trug er ein Sixpack Wasserflaschen hinein.
    «Das sind jeweils anderthalb Liter, das sollte reichen. Ich musste den Haupthahn zudrehen, ein Rohrbruch.»
    Er deutete auf das Waschbecken, an dem der Hahn nicht mehr tropfte.
    Es war mir schon aufgefallen, weil es das einzige Geräusch war. Außer einem leichten Brummen, das aus den Lüftungsschächten drang, hörte ich Stunden über Stunden nur meinen Atem, das Rascheln der Buchseiten und meine Schritte. Zwei- oder dreimal hatte ich geglaubt, von fern einen Ruf zu hören, aber es war nur eine Einbildung gewesen, ein Wunsch wahrscheinlich. Es gab keine Ferne in diesem Gemäuer. Nur erdrückende Nähe.
    Ich zählte leise bis sechshundert, nachdem er den Raum verlassen hatte. Ich gab mir Mühe, sprach jede Zahl fast tonlos, aber in jeder Silbe sauber aus. Das Licht verlosch schon bei fünfhundertsechsundzwanzig. Trotzdem zählte ich weiter und begann von vorne. Dann widmete ich mich meiner Aufgabe.
    In den Nächten hatte ich mit dem Üben begonnen, war alle Bewegungen durchgegangen. Jeden Gegenstand, jeden Winkel in diesem Raum erreichte ich trotz der Dunkelheit nun ohne irgendwo anzustoßen. Auch wenn ich damit rechnen konnte, dass er am nächsten und übernächsten Tag nicht hier erschiene, wollte ich keine halbe Stunde verstreichen lassen. Ich rückte den Nachttisch und den Stuhl zurecht, dann tastete ich mich zum Waschbecken. Wenn ich daran schon scheiterte, war alles

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