Unsichtbare Blicke
umsonst.
48
Stella wollte sich – zusammen mit Miki Saito – zuerst einen eigenen Eindruck verschaffen. Bernhard Tschelcher, so hatte Muthaus gesagt, sei der Mann, der ihnen über den Gesuchten am meisten sagen konnte. Es war erst einmal nicht ganz leicht gewesen, Tschelcher aufzutreiben.
Der Ort hatte gerade fünfzehnhundert Einwohner, aber der Mann schien umtriebig zu sein. Zu Hause seufzte seine Frau, er sei vielleicht mit dem Hornhuber im Holz, es werde höchste Zeit, sonst trockne es nicht mehr ordentlich durch.
Der Hornhuber schickte sie zur Genossenschaft, weil Tschelcher noch Dachschindeln für die Rochus-Kapelle hatte holen wollen, dort riet man ihnen, es am Schützenheim zu versuchen, der Rasen dort sei fällig.
Das kleine bayerische Dorf lag unweit der Landesgrenze zu Thüringen. Der Mann, über den sie mit Tschelcher sprechen wollte, lebte den größten Teil des Jahres in einem etwas heruntergekommenen, aber heimelig wirkenden Holzhaus; es schmiegte sich fast direkt an einen Waldrand.
Mareike Sonntag hatte sich an den kleinen See, den man links liegen ließ, erinnert, ein paar hundert Meter führten über eine unbefestigte Sackgasse zu dem einstöckigen Haus. David Wester hatte es von seinen Eltern geerbt, früher war es ein Ferienhäuschen gewesen.
Den Namen hatte Muthaus auf einigen Umwegen über verschiedene Hilfsorganisationen herausgefunden, auch wenn der Einsatz bei dem Konzert schon über anderthalb Jahrzehnte zurücklag, erinnerte sich ein Mitarbeiter an den Mann, dem zwei Finger fehlten, vor allem, weil er immer noch in der Mitgliederliste geführt wurde.
Das eigentliche Elternhaus von David Wester hatte ein paar Kilometer entfernt von der Waldhütte gestanden, in einer Neubausiedlung aus den frühen achtziger Jahren; nach einer Gasexplosion, die Vater und Mutter das Leben gekostet hatte, sprach ihm das Testament die ehemalige Jagdhütte, den Schafsteich und zwei Hektar Wald zu.
Das deutlich wertvollere Grundstück mit dem zerstörten Haus sowie die Zahlung aus zwei üppigen Lebensversicherungen hatten die Eltern Davids beiden jüngeren Geschwistern zugesprochen. Obwohl David Wester eine andere Verteilung hätte einklagen können, hatte er darauf verzichtet.
Wester hatte wenig Kontakte im Ort, obwohl er seit Anfang der neunziger Jahre dort lebte. Lediglich sein ehrenamtliches Engagement bei den Johannitern, für die er 1993 auch bei dem Konzert in Bamberg im Sanitätsdienst gewesen war, hatte er all die Jahre nicht aufgegeben; brav hatte er nach Übungen und Einsätzen mit den Kollegen ein Bier getrunken, seit zwei Jahren hatte ihm angeblich sein berufliches Fortkommen kaum noch Zeit dafür gelassen.
Über all das sollte ihnen Bernhard Tschelcher mehr erzählen können, und am Schützenheim schien Stella ihn nun endlich in die Finger zu bekommen. Tschelcher kündigte sich schon von weitem durch lautes Röhren an.
Der braungebrannte wuchtige Mann in den Siebzigern trug kurze Hosen und Unterhemd. Er umkurvte gerade die perfekt angelegte Grünfläche vor dem Vereinsheim der Schützenbruderschaft; auf dem Rasenmäher, der wie ein zu heiß gewaschener Traktor aussah, hockte er, als habe er eine Moto Guzzi unter dem Hintern.
Stella stieg aus dem Auto. Der würzige Duft des frisch gemähten Grases mischte sich mit den Abgasen des Motors.
Tschelcher mähte weiter, schaute aber dem Auto mit dem fremden Kennzeichen und dem Japaner am Steuer neugierig hinterher. Stella hatte Saito beauftragt, sich bei den ehemaligen Nachbarn der Westers im Nelkenweg und beim Pfarrer umzuhören. Auf ihr Gestikulieren tuckerte Tschelcher zum Zaun, grüßte lautstark, um den Motor zu übertönen, schaltete das Gerät jedoch erst nach Stellas Aufforderung ab.
«Kriminalpolizei aus Köln, alle Achtung», schnaufte er. «Das letzte Mal waren es wenigstens die Jungs aus Coburg, einen kenne ich, der kommt aus Stade, das ist vier Kilometer weiter. Der managt da die freiwillige Feuerwehr. Stefan …» Tschelcher lachte. Sein ganzer Körper, der auch für zwei Personen ausreichende Masse geboten hätte, schwabbelte wie ein Wackelpudding. «Prinz. Er sagt immer: Prinz, Stefan, von Stade, Sie verstehen: Prinz Stefan von Stade, also
aus
Stade, würde es richtig …»
«Ich kenne den Kollegen Prinz, ich habe mit ihm telefoniert», unterbrach Stella den Mann. Ganz richtig war das nicht, denn Muthaus hatte mit dem Kommissar in Coburg gesprochen. Sie versuchte, das Gespräch auf David Wester zu bringen, auf den
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