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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Stille.
    An der Tür war niemand. Sie beugte sich aus dem Fenster, das zur Straße hin lag. An die Haustür hatte niemand gepocht, jedenfalls stand dort niemand. Sie sog die frische bayerische Landluft in die Lungen. Die Dämmerung setzte bereits ein, mehr als zwei oder drei Stunden Schlaf konnte sie noch nicht gehabt haben. Ein Blick auf die Uhr bestätigte die Vermutung.
    Guatemala, dachte Stella, was soll der Junge in Guatemala?
    Stella füllte das Zahnputzglas am Waschbecken mit Wasser und trank es in gierigen Zügen aus. Es hatte wenig Zweck, noch auf Schlaf zu hoffen, das wusste Stella – das fremde Bett, der Wein, die Anspannung, David Wester. Hatte sie sich doch verrannt? Machte sie sich gerade in einem bayerischen Kaff zur Närrin?
    Die Überwachungskamera in einem Internetcafé. Ähnlichkeit, aber nicht einmal große. Der Cafébesitzer erinnerte sich nicht an die Person, auch nicht, als sie ihm ein Bild von Wester gezeigt hatten. Das Foto einer Radarfalle. Ähnlichkeit. Die Kamera im Parkhaus. Ähnlichkeit. Der Volvo. Mit größter Wahrscheinlichkeit der von Lena, aber nicht mit hundertprozentiger.
    Drei Mädchen, deren Adoptionsakten verschwunden waren. Zwei tot, eines verschwunden. Lenas Kind. Wester ist vielleicht der Vater. Vielleicht. Wahrscheinlich. Ähnlich. Das waren drei der zehn schrecklichsten Wörter in einer Polizeiermittlung.
    David Wester. Theo Monk. Zwei Kumpels aus dem Heim. Eine miese Geschichte. Zwei unterschiedliche Typen, die das Schicksal zusammengeschweißt hat. Zusammengeschweißt. Das war übertrieben. Sie tranken ab und zu ein Bier und quatschten über die alten Zeiten. Die alten Zeiten. Kleinsdorff. In einem Jugendwerkhof.
    Der David konnte fast herüberschauen all die Jahre.
    Stella wiederholte den Satz laut. Von wem stammte er. Sie musste ein bisschen in ihrem immer noch vom Rotwein verfärbten Gedächtnis kramen: Bernhard Tschelcher hatte das in ihrem ersten Gespräch gesagt.
    Heute können Sie da einfach rüberfahren, Wahnsinn. Jetzt steht das Ding leer, aber zu
DDR
-Zeiten war das ein übler Knast, für Kinder, man kann es sich gar nicht vorstellen.
    Stella sprang aus dem Bett. Die Wäschetruhe bekam ihren zweiten Tritt, Stella schrie auf, rannte aber trotzdem auf den Flur. Ohne zu zögern drückte sie die Klinke zu Saitos Zimmer hinunter; er hatte nicht abgeschlossen.
    Er schoss aus dem Bett.
    «Kann ich etwas für dich tun, Chefin?»
    «Weck Muthaus und Kronen. In zehn Minuten ist Abmarsch.»
    «Ich liebe präzise Anweisungen.»
    Ein paar Minuten später beim Einsteigen ins Auto standen Saitos Haare ordnungsgemäß gegelt in die Höhe. Lorenz Muthaus gab außer einem Knurren nichts von sich. Seine Kollegin Petra Kronen nahm ihm den Autoschlüssel ab und setzte sich mit einer Bemerkung über Restalkohol hinters Steuer.
    Über dem Schafteich lagen noch Nebelschwaden, als die beiden PKW von der Landstraße abbogen. An der oberen Zufahrt zu Westers Grundstück stand das Auto der Coburger Kollegen. Einer von ihnen gähnte und wunderte sich über die verfrühte Ablösung.
    «Keine Ablösung», enttäuschte Stella ihn. «Besonderheiten?»
    «Kein Mucks seit gestern Abend», erwiderte der junge Kriminalbeamte. «Schläft.» Seine kleinen Augen verrieten, dass er das ebenfalls getan hatte.
    Stellas Wutausbruch drei Minuten später weckte selbst das letzte Eichhörnchen im Umkreis von einem Kilometer. «Kennen Sie sich drüben in Thüringen aus», schnauzte sie den Polizisten an.
    «Geht so», antwortete er.
    «Miki, hat dein iDings ein Navi?»
    Saito nickte.
    «Dann los, gib Kleinsdorff ein.»

60
    Ich hatte nicht aufgegeben und war belohnt worden. Zwischenzeitlich war ich einfach im Schacht eingeklemmt eingeschlafen, aber dann hatte ich mich endlich bis zu dem Waschraum vorgearbeitet. Vielleicht war die Feuchtigkeit dort der Grund dafür, dass sich das Gitter des Lüftungsschachts lösen ließ. Kopfüber glitt ich aus der Röhre hinab und plumpste nur deshalb nicht auf die kalten und brüchigen Fliesen, weil eines der Waschbecken direkt unter der Öffnung in der Wand lag.
    Mit den ausgestreckten Armen erreichte ich gerade eben die Kante, nur mit den Fingerspitzen, aber das reichte, um mich abzustützen und einen freien Fall zu verhindern. Mein Puls raste, am liebsten wäre ich sofort zur Tür hinausgestürzt, aber ich beherrschte mich.
    Ich drehte einen der Wasserkräne auf, um meinen unbändigen Durst zu stillen. Kein Tropfen kam heraus. Ich erinnerte mich, dass er von einem

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