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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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ab, die Nummer mit dem Bücherwurm.»
    «Besonders nicht, wenn du es auf dem Kopf hältst», legte jemand anderes nach.
    Felix warf einen schnellen Blick auf das Buch und hätte es in einem Reflex fast umgedreht, dann klappte er es einfach zu und trat einen Schritt auf das Klassenzimmer zu. Mehr und mehr Leute quollen heraus. Die meisten zogen eine Flappe wegen des unangekündigten Englischtests, mit dem wir überrascht worden waren. Ein paar der Jungs kickten Felix freundschaftlich mit der Faust an die Schulter.
    Als ich seinen Blick fing, spürte ich es sofort: Er wartete auf mich.
    Der Strom unserer Mitschüler teilte sich um uns herum. Wie auf einer Insel begegneten wir uns in der Mitte des Ganges. Eine Ewigkeit verging, bis er endlich den Mund aufmachte, ihn aber wieder zuschnappen ließ.
    «Hoppla», raunte Sarah mir von hinten ins Ohr und schob sich schnell an mir vorbei. Sie verdrückte sich augenblicklich mit einem halbwegs dezenten Kichern.
    «Noch gut nach Hause gekommen … neulich …?», fragte ich. Grandiose Frage, aber mir fiel nichts Besseres ein.
    Er nickte bloß und nestelte an dem Buch herum. «Und du?»
    «Hatte es ja nicht weit.»
    Komisch, an dem Abend war alles viel einfacher gewesen. Wir hatten den gesamten Weg geplaudert und gelacht und dummes Zeug geredet, gutes dummes Zeug, nicht solchen
«Noch gut nach Hause gekommen? – Hatte es ja nicht weit»
-Mist.
    Die Schatten unter seinen Augen waren ein wenig dunkler geworden, was ihn aber noch attraktiver machte. Er trug keine der Wollmützen, ohne die man ihn draußen selten sah, und auch keine Kapuze; beides war im Schulhaus verboten.
    «Ich hab ein bisschen drin gelesen», sagte er.
    Er streckte das Buch von sich. Ich betrachtete den Titel und stellte fest, dass es Madame Bovary war, meine Madame Bovary. Der Umschlag wellte sich. Das Gesicht der Frau in dem Kleid mit weiten Röcken, einem Hut mit Bändern und dem Sonnenschirm war mit Schmutz beschmiert. Ich hatte es schon vermisst und mich geärgert, weil ich mir darin viele Stellen angestrichen hatte. Es war klar, dass die nächste Deutschklausur sich mit Flaubert beschäftigen würde.
    «Das ist dir
neulich
aus der Tasche gefallen, am Bus. Hab vergessen, es dir zu geben.»
    Er war wirklich ein schlechter Schauspieler.
    «Macht ihr das in Deutsch?»
    Wir standen da, der Flur hatte sich längst geleert, er hielt das Buch, ich hielt es, keiner ließ es los. Papier leitete nicht, jedenfalls keine Elektrizität. Meine Fingerspitzen glühten trotzdem, und ich wunderte mich, dass die Seiten kein Feuer fingen.
    Ich nickte. «Du hast darin gelesen?»
    «Hm, also, ja. Fetter Schmöker, aber ich hab gelesen, ein paar Kapitel. Bis da, wo der Mann von ihr sie zum Klavierunterricht schickt. Dämlicher Typ, echt.»
    Er löste nun doch die Finger von dem Taschenbuch und überließ es mir. An der Stelle, bis zu der er gekommen war, steckte ein aus einem Heft gerissener Zettel.
    «Und so kam es schließlich dahin, dass sie von ihrem Gatten die Erlaubnis erhielt, jede Woche einmal in die Stadt zu fahren, um den Geliebten zu besuchen. Schon nach vier Wochen fand man, sie habe bedeutende Fortschritte gemacht»
, sagte ich.
    Seine Augen weiteten sich. «Du kannst das auswendig?»
    «Nein, nur ein paar Stellen, aber diese ist super.»
    «Geht so.»
    «
Sie machte bedeutende Fortschritte
, das ist ironisch, doppeldeutig, verstehst du?»
    «Hey, ich bin nicht blöd, mir ist klar, worin sie Fortschritte gemacht hat.»
    «Das war nicht so gemeint», beschwichtigte ich ihn. «Du kannst es zu Ende lesen, wenn du willst.»
    «Lass mal», erwiderte er. «Ist dann doch nicht so mein Ding.»
    «Was ist denn dein Ding?»
    «Hofpause, Herrschaften», raunzte uns Dr. Rexhausen an. An der Zwischentür zum Verwaltungstrakt drehte er sich noch einmal um. Ich wusste, was er fragen würde.
    «Ich habe die Zustimmung Ihrer Eltern zur Teilnahme an der Klassenfahrt noch nicht, Josie.» Rexhausen war einer der wenigen, der alle Schüler über sechzehn konsequent siezte. «Und den Beitrag, denken Sie an den Beitrag.» Die Glastür schepperte hinter ihm ins Schloss.
    Ich hatte das Geld in der Tasche; warum ich es noch nicht abgegeben hatte, wusste ich selbst nicht.
    «Fährst du nicht mit?», fragte Felix wie aus der Pistole geschossen.
    «Doch, klar», antwortete ich genauso schnell.
    Auf dem Schulhof verschwand Felix nach einer knappen Verabschiedung in der Menge der umherjagenden Fünftklässler. Ich wusste, dass er immer mit ein

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