Unsichtbare Blicke
paar Jungs aus der Handelsschule quer gegenüber zur Bäckerei an der Ecke ging.
Sarah und ein paar der anderen Mädchen tauchten wie aus dem Nichts auf.
«Josie, Josie, es ist so weit …», sangen sie im Chor.
Ich wünschte mir, dass Felix schon weit genug weg war. Wie peinlich! Ich hasste dieses Lied. Peter Maffay mit seiner Warze und dem Getue als alter Rocker, was ihm kein Mensch abnahm. Irgendeins der Mädels hatte den Song im Radio gehört, als sie ihrer Tante beim Gläserpolieren für die silberne Hochzeit geholfen hatte.
Mein Name hatte nichts mit diesem Lied zu tun, überhaupt nicht. Ich konnte nur froh sein, dass mein Vater wohl der einzige Mensch auf der Welt war, der den Song nicht kannte. Er hätte mich garantiert umgetauft.
«Hört auf!», schimpfte ich, aber irgendwie fand ich es dann doch lustig. Sie grölten weiter: «… vergiss die Mädchenträume und halte dich bereit, der Tag geht abends schlafen und wacht als Morgen auf, doch aus dem Kind von gestern …» Der Rest ging in Kichern unter.
12
Stella schreckte auf. Sie war eingedöst, ihre rechte Wange überzog eine Druckstelle des Sicherheitsgurtes, an den der Kopf gesunken war.
Saito schob mit einer Hand das Handy in die Brusttasche, mit der anderen tippte er den Blinker kurz an und gab einem Sattelschlepper die Chance, sich in den Vormittagsverkehr zu fädeln.
«Schröder, der Gerichtsmediziner. Tod durch Ertrinken», sagte Saito.
«Ist er sicher?»
Saito nickte. «Ziemlich, aber Verbindliches erst im schriftlichen Blablabla und so weiter. Sie hat wahrscheinlich zwei, höchstens drei Tage dort gelegen. Er will noch einen Kriminalbiologen zuziehen. Mit Muthaus habe ich noch mal gesprochen. Im direkten Umfeld der Halle kann man in nichts ertrinken und auch nicht ertränkt werden. Der Tatort ist irgendwo anders. Es gibt Spuren ohne Ende, aber nicht für unser Ding.»
Stella seufzte. Seine Wortwahl, wenn er über einen Fall sprach, nervte sie manchmal. Wie konnte jemand so kalt sein. Ihr warf man das Gegenteil vor, zu emotional, zu beteiligt, zu verstrickt, nicht objektiv.
Objektiv löste man keine Fälle, das war ihr Credo, und bisher hatte sie recht behalten, und recht behalten war schöner als recht haben. Andererseits: Gab es die richtigen Worte? Ding. Fall. Es passte alles nicht.
Celine war jetzt ihr Fall. Die Kollegen hatten schon für die Identifizierung gesorgt. Das Mädchen stammte aus Thüringen.
Celine Morgenthau, geboren in Berlin, siebzehn verspielte, behütete, luftige, vielleicht rotzige, rebellische oder auch angepasste Jahre in einem Örtchen namens Oberpöllnitz, dann spurlos verschwunden, vermisst und jetzt tot, ein paar hundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt gefunden, mit einer Zahl auf dem Arm, die niemand zu deuten wusste. 013 .
Vielleicht nummerierte er sie schlichtweg, aber warum nur mit ungeraden Zahlen, und warum hatte er sich bei dem Mädchen zuvor die 011 als Startzahl gewählt? 011 . Tanja Stecker, gefunden in einem Leuchtturm an der Küste von Mecklenburg-Vorpommern. Ebenfalls mit Wasser in der Lunge, ebenfalls ertränkt. Und jetzt Celine. 013 .
Stella schaute zum Fenster hinaus, an dem die Landschaft vorbeiflog. Die Belüftungsschlitze pusteten schmierige Luft herein, immer noch feucht, obwohl der Regen sich verzogen hatte. Ab und zu schrappten die Wischer über die Scheiben und verteilten das Gemisch aus Schmutz und Feuchtigkeit in gleichmäßigen Halbbogen auf der Scheibe. Saito kämpfte mit Spritzern aus der Waschanlage gegen die Schlieren an. Der Glykolgeruch, oder was sie der Brühe beimischten, legte sich auf Stellas Schleimhäute.
Der
Point of no Return
, wie ihr Ausbilder es einmal genannt hatte, war noch nicht da. Der Moment, in dem eine Ermittlung einen kleinen Schubs bekam und auf ihr unaufhaltsames Ende zurollte. Es hatte nicht unbedingt etwas mit harten Fakten zu tun, manchmal war es nicht einmal eine neue Information oder ein Indiz. Es war der Augenblick, in dem der entscheidende Tropfen Schmiermittel ihre Synapsen auf Touren brachte.
Felder, Wälder schossen am Fenster vorbei, wieder Felder, besuchen Sie den einzigartigen Naturpark Habichtswald, Märchenland der Brüder Grimm.
Ihre Zunge klebte am Gaumen. Sie fühlte, wie der pelzige Belag darauf wuchs.
Raststätte Bühleck Süd in zwei Kilometern.
«Kaffee?!» Sie deutete auf das Schild, das wie ein blauweißer Schatten schon vorbeihuschte. Saito gab ein Knurren von sich und drückte das Gaspedal durch.
Er schoss an der
Weitere Kostenlose Bücher