Unsichtbare Blicke
Schlag würde sich das familiäre Umfeld der Opfer schlankerhand verdoppeln. Leibliche Eltern, Adoptiveltern, Opas, Omas, Cousinen, Onkel und so weiter.
«Ist alles in Ordnung?», fragte Martha Stussmann.
«Wir würden uns gerne Celines Zimmer anschauen.»
Martha Stussmann wies den Polizisten den Weg in das obere Geschoss. Mit jeder Stufe hinauf wuchs Stellas Hoffnung wieder ein bisschen an. Vielleicht fanden sie dort oben im kleinen Reich des toten Mädchens die Hinweise, die sie auf eine Spur brachte, irgendeine, etwas, das sie verwerten konnte, das die Lücken schloss.
Lücken. Lächerlich, der ganze Fall war eine Lücke.
Seit Celines Verschwinden war nichts verändert worden. Ein paar Trainingsklamotten lagen herum, auf dem Schreibtisch ein paar Bücher für kaufmännisches Rechnen und Buchhaltung, als Lesezeichen steckte die Eintrittskarte eines Klavierkonzerts in Erfurt darin.
Nur ein Klavier direkt hinter der Tür unterschied das Zimmer von der typischen Bude eines Mädchens um die siebzehn. Ansonsten gab es einen Sessel, über den eine Decke mit einem Muster aus üppigen Pfingstrosen gebreitet war, ein paar Plüschtiere, alles Hasen, auf dem Bett, Poster an den Wänden, Zeitschriften über Mode, Styling, Stars.
«Sie spielte so schön», sagte Celines Großmutter. «Den Unterricht haben Norbert und ich ihr bezahlt, und manchmal hat sie Stücke nur für uns gespielt, selbst erfundene, ihr Klavierlehrer hat gesagt, es seien fast schon Kompositionen.»
Saito hatte begonnen, den Schreibtisch und die zwei schmalen Wandregale mit Büchern und CDs durchzuschauen. Stella nahm sich den Schubladenschrank, ihr Bett und den Kleiderschrank aus grobem Segeltuch vor.
Martha Stussmann schaute sich hilfesuchend um. «Celine ist sehr empfindlich mit ihren Sachen.»
«Es wäre uns lieber, wenn Sie uns alleine ließen», sagte Stella.
Bevor die Frau den Raum verließ, fragte Saito: «Hatte sie keinen Computer?»
Frau Stussmann zögerte einen Moment. «Doch, aber der ist ihr vor ein paar Monaten gestohlen worden.»
«Gestohlen?»
«Ja, es war so einer, den man mitnehmen kann, sie hatte lange dafür gespart, und dann hat sie in der Schule nicht darauf aufgepasst.»
«Wann genau war das?»
«Kurz davor», flüsterte Frau Stussmann.
«Bevor sie verschwunden ist?»
Die alte Frau nickte.
«In der Schule?», fragte Stella.
Sie nickte wieder.
«Ja, es gab eine Menge Ärger, aber das Gerät tauchte nicht mehr auf. Die Direktorin bildet sich viel darauf ein, dass bei ihr Ordnung herrscht. Viele Kinder aus …», sie zögerte, «… schwierigen Verhältnissen, verstehen Sie.»
Stella notierte die Adresse von Celines Schule und von ihrem Ausbildungsbetrieb. Zuerst fuhren sie jedoch zu Celines Vater, der im Nachbarort arbeitete.
Klaus Morgenthau war ein hochgewachsener Mann mit kräftigen Schultern. Er schaute sie zwar aus tieftraurigen braunen Augen an, aber er strahlte eine Kraft und Entschlossenheit aus, die man wohl auch brauchte, wenn man die Ungetüme von Baggern steuern wollte, wie Morgenthau es tat.
Er überwachte gerade, wie eines der Geräte auf einen Tieflader bugsiert wurde, übergab die Aufgabe aber sofort an einen älteren Kollegen. Im Büro des Bauunternehmens, in dem er eine leitende Funktion ausübte, brauchte er ein paar Minuten, um sich zu fassen.
«Celine wäre niemals abgehauen, verstehen Sie, so klassisch abgehauen, keinen Bock mehr und so weiter. Niemals. Sie hat sich wohl gefühlt, und es war ihre eigene Entscheidung mit der Lehre und alles. Ich hätte mir was anderes gewünscht, aber sie wollte hier bleiben, nicht in die Stadt zum Studieren und so.»
«Und die Musik?», fragte Saito.
«Es hätte nicht fürs Konservatorium gereicht, sie hat es ausprobiert. Wir waren mehrmals in Erfurt und einmal in Dresden, heimlich.»
«Heimlich?»
«Celine wollte nicht, dass jemand davon erfuhr, sie hatte Angst, sich lächerlich zu machen. Mein Schwiegervater erwartete sich so viel von ihr.»
«Aber Ihnen hat sie sich anvertraut.»
«Klar, wir waren immer dicke Kumpel. Deshalb wusste ich auch, dass etwas Schlimmes passiert ist. Sie hätte auch unter irgendeinem Vorwand zu den Musikschulen fahren können, aber sie hat mich darum gebeten. Sie hat geglaubt, dass sie die musische Begabung von mir hat. Ich wollte Kunst studieren, Bildhauerei, aber mich hat nach der Wende der Mut verlassen.»
Es entstand eine Pause. Morgenthau entschuldigte sich, dass er den beiden nichts angeboten hatte, aber Stella
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