Unsichtbare Blicke
gefunden?», fragte Susan Morgenthau. Ihre Stimme war trocken.
Sie fragte nicht, ob ihre Tochter aufgetaucht, zurückgekommen sei. Sie fragte, ob Celine gefunden worden war, wie man eine Muschel am Strand, einen verloren geglaubten Ohrring, den Autoschlüssel fand. Oder den Rest von dem, was einmal ihre Tochter gewesen war.
«Celine wurde in einer verlassenen Fabrikhalle nahe Wuppertal entdeckt, natürlich muss sie noch identifiziert werden, aber es bestehen wenig Zweifel. Sie trug ihren Ausweis bei sich. Es tut mir leid. Ich weiß, dass Sie gehofft haben …»
«Wir haben nicht gehofft», flüsterte Susan.
Sofort sprang Norbert Stussmann auf. «Natürlich, alle haben gehofft, du auch!»
Seine Tochter schüttelte den Kopf. Dann ging sie wortlos ins Haus.
Celines Großvater sträubte sich noch gegen die Gewissheit. Martha faltete still die Hände im Schoß und weinte. Vielleicht war sie die Einzige, die gerade bei dem Mädchen und nicht bei ihrem Schmerz war, denn sie sagte: «Dann hat es ja ein Ende.» Und folgte ihrer Tochter ins Haus.
«Herr Stussmann, sollen wir jemand kommen lassen, der sich um Sie und Ihre Familie kümmert, wir haben Fachleute … oder einen Seelsorger, hier aus dem Ort?», wandte Stella sich an den alten Mann, der seinen Werkzeuggürtel abgeschnallt und auf den Tisch gelegt hatte.
«Seelsorger!», schnaubte Stussmann. «Wir brauchen niemand. Wir kommen alleine zurecht. Vorher, da brauchten wir Hilfe, aber Mädchen laufen ja weg, o ja, täglich, das ist nichts Ungewöhnliches für die Herrschaften.» Er atmete schwer und flüsterte nur noch: «Für uns war es etwas Ungewöhnliches.»
Martha Stussmann trat wieder auf die Terrasse. «Ich habe ihr eine von den Tabletten gegeben, Norbert», sagte sie fast entschuldigend. «Sie schläft gleich.»
Stella beherrschte sich und verdrehte nicht die Augen. Das war genau, was sie nicht wollte. Auch wenn es in dieser Situation noch so schwer für die Mutter war, sie musste mit ihr reden. Hätte mit ihr reden müssen.
«Wir sollten Klaus anrufen», sagte Martha Stussmann. «Susan und er haben es nicht ausgehalten, die Angst, das Warten, er ist gegangen.»
«Wo ist Herr Morgenthau jetzt?», fragte Stella.
Martha Stussmanns Blicke wanderten zu ihrem Mann, dann antwortete sie: «Eine Einliegerwohnung über der Firma, in der er arbeitet, sein Chef hat ihm das Apartment angeboten, bis sich alles klärt.»
«Den Schwanz eingezogen, das hat er!» Norbert Stussmann verlor nun vollständig die Fassung. «Er hat das Mädchen nie anerkannt, so ist es doch, das Ganze ist ihm gerade recht gekommen.»
Nur mit Mühe konnten Stella und Saito die Fakten aus der aufgeladenen Stimmung filtern. Die Ehe der Morgenthaus schien schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu funktionieren. Celines Verschwinden hatte sie nicht wieder zusammengebracht, sondern die Konflikte befeuert, woran Susans Vater nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Er hatte seinem Schwiegersohn schon immer vorgeworfen, dass er keine Familie unterhalten konnte, nicht einmal gründen konnte er sie, höhnte der alte Mann.
«Mir hat das nichts bedeutet», sagte Stussmann. «Ich hab sie ins Herz geschlossen, wie ein eigenes Enkelchen, vom ersten Tag an.»
«Was soll das bedeuten?», fragte Stella.
«Celine ist nicht unsere leibliche Enkeltochter, die Kinder haben sie adoptiert», erklärte Martha Stussmann. Sie errötete. «Es ist so, Klaus kann keine …»
«Der Schlappschwanz ist impotent», unterbrach ihr Mann sie.
Martha Stussmanns Gesicht wechselte wieder die Farbe. Bleich saß sie da. «Hör endlich auf, Norbert! Klaus ist unfruchtbar, eine Entzündung, schon als junger Mann, das konnte doch keiner wissen.»
«Ich hätte ihm das Haus nicht überschrieben, wenn ich es gewusst hätte!», beendete Stussmann das Gespräch. Grußlos stand er auf und ging hinein.
Eine kurze Weile saß Stella regungslos da, dann stand sie auf und gab Saito ein Zeichen. Sie entschuldigte sich bei Martha Stussmann, um ihren Kollegen kurz zur Seite zu nehmen.
«Das erste Mädchen war auch adoptiert?»
Saito nickte.
Stella atmete tief durch. Sie spürte plötzlich, wie klebrig, wie müde, wie verkatert sie war. Trotzdem vibrierten ihre Sinne. Beide Mädchen waren adoptiert. Das musste rein gar nichts bedeuten, aber es war außer ihrem Alter und den Zahlen, mit denen der Täter sie gekennzeichnet hatte, die erste Gemeinsamkeit.
«Das macht ein Riesenfass auf», murmelte Saito.
Natürlich hatte er recht. Mit einem
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