Unsichtbare Blicke
auseinanderstehenden Augen, wie Jackie Kennedy, vornehm und irritierend. Von ihrem Vater hatte sie wenig mitbekommen, aber das war vielleicht besser so. Als eine Schönheit konnte man ihn nicht bezeichnen.
Im Hintergrund lag eine große Reisetasche auf dem Bett, noch offen, aber schon gepackt, morgen würde es losgehen.
«Mädchen», flüsterte er und schüttelte lächelnd den Kopf. Was sie alles brauchten, für ein paar Tage Klassenfahrt nach Berlin.
Zum letzten Mal war er in Berlin gewesen, als er in die Büros der Adoptionsstelle eingestiegen war. Es hatte ihm fast schon Spaß gemacht, nicht nur vor einem Bildschirm zu sitzen, im Netz herumzustochern. Echt war es, spürbar, auch wenn es ein belangloser und fast lächerlicher Trick gewesen war. Ein Hunderter für den Mann vom Putzdienst, und der Kerl aus dem Kosovo hatte ihm seinen Ausweis überlassen und die für drei andere Senatsgebäude gleich mit.
Sein Gepäck für diese Reise stand ebenfalls schon bereit.
Für ihn reichte ein Köfferchen, das eher an eine zu groß geratene Aktentasche erinnerte. Es begleitete ihn schon seit vielen Jahren. Er hatte gelernt, dass es besser war, sich nicht so sehr an Dinge zu ketten. Eigentlich brauchte man fast nichts, besonders dann nicht, wenn man unauffällig sein wollte.
Seine hellgrauen Hosen, die Hemden, kurzärmelige für den Sommer, lange für den Winter, fast alle in Pastellfarben, sie stachen niemandem ins Auge, bequeme Schuhe aus wetterfestem Goretex, eine ebensolche Allwetterjacke, ein paar Strümpfe, Unterhosen und vier verschiedene Kopfbedeckungen: zwei Baseballkappen, ein Strohhut und die graue Mütze, die ihm eine Kollegin aus der Zentrale gestrickt hatte, vor Jahren, sie hatte sich etwas ausgerechnet, aber irgendwie hatte es dann wieder nicht geklappt, wie immer, nach ein paar Treffen liefen sie weg.
Maria hatte sie geheißen, nein, Marianne, vielleicht, er erinnerte sich nicht mehr. Vielleicht hatte sie auch das Haus nicht gemocht, so einsam, Frauen mochten nicht so weit weg von allen anderen wohnen, sie wollten Nachbarn haben, mit denen sie quatschen konnten und grillen, gemeinsam mit den Kindern, Fußball, im Garten. Das alles gab es bei ihm nicht, und der Wald konnte manch einem auch Angst machen, er wusste das.
Er brauchte nicht viel. Kernseife, einen Deostift, die Florena und ein Rasierwasser, das nach Gewürzen roch. Es war wichtig, immer frisch rasiert zu sein, das war wichtig, und er mochte diesen Geruch, der ihn an seinen Vater erinnerte, den guten Vater, den auf der anderen Seite des Meeres, nicht den, den er nachher wiedergefunden hatte.
Sein Rasierwasser war immer mit einem der Pakete aus dem Westen gekommen, damals, eine Flasche aus weißem Porzellan, oder vielleicht war es auch Pressglas, auf jeden Fall nicht wie die anderen Rasierwasserflaschen, nicht durchsichtig. Ein Segelschiff war darauf abgebildet, vielleicht war es dieser Dreimaster, der in ihm als kleinem Jungen die Hoffnung wachgehalten hatte, es gebe ein anderes Leben, hinter dem Meer, irgendwo. Den hatte er sich eingeprägt, und immer, wenn sie etwas malen durften, hatte er versucht, den Segler zu malen.
«Hinter dem Meer», hatte sein Vater gesagt, «von ganz weit weg holt das Schiff die Düfte, Zimt und Zitrone, riechst du es?», hatte der Vater gefragt und den kleinen eckigen Stöpsel aus der Flasche gezogen, ihn daran riechen lassen und einen sehr kleinen Tropfen auf seine Wangen getupft.
Das war vorher gewesen, bevor er aufgeflogen war.
Er hatte dann wie sein Vater gerochen, darauf war er stolz gewesen, auch wenn er sich noch gar nicht rasieren musste, noch lange nicht, in sechs oder sieben Jahren vielleicht.
Später hatte er seinen Vater gehasst, abgrundtief gehasst. Aber das Rasierwasser hatte er weiterhin benutzt. Er hatte es dann ja selbst kaufen können. Im Westen.
Josie sah traurig aus. Sie sollte sich doch freuen. Klassenfahrt, endlich weg, endlich etwas von der weiten Welt sehen, Großstadt, Berlin, ganz Berlin, Westen, Mitte, Osten.
Er wartete darauf, dass sie sich in das Chatprogramm einloggte, in dem sie immer unterwegs war. Aber sie wollte mit niemand chatten, nichts, sie loggte sich nicht ein.
Er wählte sich in den weißrussischen Server, der ihn rund um die Welt führte, um am Ende wieder in Deutschland zu landen, auf Josies Rechner. Die Belorussen mochten unter ihrem Lukaschenko leiden, aber gerade der rechtsfreie Raum, den der Diktator schuf, half allen, die im Internet ihr Schindluder trieben.
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