Unsichtbare Blicke
auch, dass es eigentlich doch umgekehrt sein müsste, er müsse mir Schmuck schenken, aber vielleicht sei dies kein Schmuck, sondern eine Voodooschnur, jede Perle bedeute etwas.
«Die muss ich jetzt bis ans Ende meiner Tage tragen!», lachte er.
Er legte beide Hände an die Kette und tat so, als wolle er sie mit aller Gewalt über den Kopf ziehen. Ächzend warf er den Kopf hin und her. Mitten auf der Straße, die wie immer um diese Zeit kaum noch von einem Auto befahren wurde, führte er dieses Theater auf, bis ich in sein Lachen einstimmte.
Es hallte unnatürlich laut, weil sich schon die Dunkelheit über die Büsche und Bäume gelegt hatte und jedes Knistern und Knacken wie durch einen Lautsprecher verstärkte. Meine eine Hand fuhr zu meinen Lippen und legte sich darüber, mit der anderen griff ich Felix’ Hand, die immer noch an dem Halsschmuck lag. Auch er verstummte.
«Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe», hauchte er mir ins Ohr.
Ich lief zum Haus.
Ich musste Geronimo eine letzte Mail schreiben. Felix hatte zwar nichts gesagt, nichts gefordert, aber umso mehr musste ich mich von Geronimo verabschieden. Und Sarah sollte sich warm anziehen.
21
Er hatte gelernt, wie man seine Spuren im Internet verwischte, trotzdem war jeder Kontakt zu Josie auch ein Risiko. Sie hatte sich sehr rar gemacht in der letzten Zeit, kaum Zeit am Computer verbracht, abends noch ein paar Minuten am Fenster gesessen, sehnsuchtsvolle Blicke in die Ferne geworfen und war dann ins Bett geschlüpft.
Ihre Mails sprachen allerdings für sich.
Zu gern hätte er gewusst, wie der junge Mann aussah, dem die Blicke und die Seufzer und das Gekicher galten, die verträumte Abwesenheit, wenn sie eigentlich für die Schule pauken sollte und minutenlang vor dem Computer saß und starrte, dann wieder das selige Lächeln, ein paar Zeilen für den Aufsatz, wieder weg, weg mit den Gedanken bei diesem Felix, von dem er nicht wusste, ob er ihn in die Nähe seines Mädchens lassen durfte.
Ein paarmal hatte er mit dem Gedanken gespielt, diesen Sonnleitner darüber zu belehren, was Vaterpflichten waren, wie sehr man die Augen offen halten musste, wenn man ein Töchterchen wie Josie hatte, ein solches Juwel, das einem eine Menge Burschen wegschnappen wollten. Doch er hatte sich zurückgehalten, er hätte nur schlafende Hunde geweckt. Sie hätten das Mädchen seinen Blicken, vielleicht seinem Zugriff entzogen.
Sonnleitner war streng und ein Arschloch, dieser ganze Mist mit seinen Brüdern des Lichts hatte ihm das Hirn verschissen, nichts sah er, blind für das, was wirklich vorging.
Es war nur richtig, dass er dem Kerl das Mädchen wegnahm, er konnte viel besser auf Josie aufpassen, und bald wäre es so weit.
Nach der Klassenfahrt musste er es tun. Schon zu lange hatte er gewartet. Es war so schön gewesen, immer bei ihr zu sein, so unglaublich einfach, und er hatte es genossen.
Die anderen hatte er immer nur am Wochenende beobachten können, aus der Ferne und mit hohem Risiko, zweimal hatte ihn eine aufdringliche Alte gegenüber dem Haus der Morgenthaus fast erwischt. Die langen Fahrten nachts, um am Samstagmorgen wenigstens ein bisschen von ihnen zu haben und am Sonntag, und dann wieder zurück, in der Nacht, um bloß nicht zu spät im Büro zu sein.
Für Josie war er absolut unsichtbar gewesen.
Ein leises Zwitschern verkündete, dass sie online gegangen war, er hatte den Sound für sie ausgewählt. Sie hatte sich einmal mit einem Eisvogel verglichen, und das Vogelzwitschern war so viel schöner als das metallische
Pling
, das vorher ihre Ankunft verraten hatte. Dann sah er Josie, die sich vor dem Computer in Position setzte.
Jede ihrer Bewegungen war ihm vertraut. Gleich schüttelte sie den Kopf, ein bisschen nach hinten geneigt, warf die Haare, die sie heute offen trug, in den Nacken, spreizte die Finger und schob ein paar Dinge auf der Schreibtischplatte zurecht, eine Marotte, sie hatte mit siebzehn schon eine kleine Marotte, er mochte das; es erinnerte ihn daran, dass sie auch auf einem Kaffeehaustisch zuerst die Sachen in Reih und Glied aufgestellt hatte, den Zuckerstreuer in der Mitte, dann den Serviettenhalter, die Vase mit den verstaubten Veilchen aus Seide. Alle schön nebeneinander. Ein paar wenige Male hatte er sich in ihre Nähe gewagt, obwohl das ein großes Risiko bedeutete.
Im echten Leben, ohne die Kamera dazwischen, sah Josie ihrer Mutter auffällig ähnlich. Das dichte rötliche Haar, die etwas zu weit
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