Unsichtbare Blicke
Manchmal waren die Verbindungen wackelig oder verstopft, aber wenn man drin war, verlor sich die eigene Spur im Nichts.
Auf dem kleineren Monitor neben dem, der die Aufnahme der Webcam wiedergab, bildete sich Josies Festplatte ab, er war nun direkt bei ihr, konnte alles sehen, was sie sah, alles lesen, was sie schrieb, was sie tat. Einen drolligen Bernhardinerwelpen hatte sie seit ein paar Tagen als Bildschirmhintergrund gewählt, nicht mehr den schönen silbrigen Mond mit der Silhouette der Skulptur.
Vielleicht sollte er ihr ein solches Hündchen zur Begrüßung schenken?
Ein dummer Gedanke, das Biest wuchs, wurde riesig, sabberte, und am Ende musste er sich darum kümmern und ihn dann doch töten.
Sie schrieb eine E-Mail. Er konnte sie verfolgen, die Buchstaben reihten sich fast in Echtzeit auf seinem Bildschirm auf.
An Geronimo.
Er lächelte.
Lieber Geronimo
, viel weiter war sie noch nicht gekommen, weil sie den Anfang immer wieder löschte, sich dann doch für die Anrede entschied, die sie selten nutzte:
Hi G’!
Die Sätze gingen ihr ein bisschen schneller von der Hand, obwohl sie bei jedem Absatz eine Pause machte, das Geschriebene überprüfte, nicht so wie sonst, wenn sie locker drauflosschrieb, ohne Rücksicht auf Groß- und Kleinschreibung und Zeichensetzung und voller Abkürzungen, wie die Kids sie überall benutzten, eine eigene Sprache, die man erst einmal verstehen musste.
Sie hatte sich alles wohl überlegt. Und es war nicht nett, was sie da schrieb. Sie verabschiedete sich von Geronimo. Dummes Mädchen, dummes Mädchen, als ob das so einfach wäre. Das musste sie noch lernen, treu sein, nicht einfach losspringen, wenn ein kleiner dreckiger Wichser auftauchte und ihr schöne Augen machte.
Er würde es ihr schon beibringen! Und ihm. Die Eier würde er ihm abschneiden, eins und dann noch eins und seinen dreckigen Pimmel, falls er ihn in sie stecken würde.
Geronimo würde es ihr nicht so leichtmachen. Geronimo würde ihr beweisen, dass man ihn nicht so leichtfertig ausloggen konnte.
22
Ich war überrascht, als Bugsie sich hinter dem Lenkrad des in die Jahre gekommenen Reisebusses hervorwuchtete und uns missmutig begrüßte. Sein Kollege, der eigentlich für solche Aufträge eingesetzt wurde, hatte sich auf einer Balkantour mit dem Kegelclub eine Gelbsucht gefangen. Nun musste Bugsie uns nach Berlin fahren.
Er hasste es, «eine Kutsche voller Hormonbomben durch die Gegend zu schaukeln». Irgendeinen Ärger gebe es am Ende meistens, gekotzt werde auf jeden Fall. «Ich schwöre euch, ihr leckt den Dreck zur Not auf!», drohte er.
Wir mussten als Erstes mit ihm aushandeln, dass wir wenigstens zwei Drittel der Strecke unsere Musik hören durften, was dann aber daran scheiterte, dass es
unsere Musik
nicht gab. Die Rapper konnten zwar knapp vor den Heavy-Metal-Jungs eine Mehrheit hinter sich bringen, die war aber so klein, dass am Ende doch Bugsies
Klassiker des Swing
und hinter Magdeburg sogar
Die zwanzig schönsten Ufa-Filmschlager
aus den Lautsprechern dudelten.
Sarah konnte sich besonders bei einem Lied nicht halten; sie sprang nach vorne und schwatzte Bugsie das Bordmikro ab, um mit verruchter Stimme «Kann denn Liebe Sünde sein? Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst …» zu schmettern. Rexhausen drohte ihr ein Referat über die Rolle der Aushängeschilder des deutschen Films und deren Propagandaeinsätze für Goebbels und Hitler im Dritten Reich an.
Ich hatte fast die gesamte Fahrt über mit dem Tornado an Gerüchen zu kämpfen, der über mich hinwegzog. Wenn ich aufgeregt oder angespannt war, peinigten mich die Sinnesverwirrungen. Die Synästhesie war stärker als sonst. Die Mixtur von Körperausdünstungen war selbst für normal riechende Menschen eine Herausforderung.
Sarah hatte sich nicht zu den Jungs in der letzten Bank geworfen. Ein bisschen war es auch eine Geste der Versöhnung. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich ihr verzeihen konnte, dass sie sich gegenüber Felix verplappert hatte, was Geronimo anging. Sie leistete mir Beistand in der zweiten Bank hinter Bugsie, wo ich noch einigermaßen nach vorne rausschauen konnte. Übel war mir trotzdem die meiste Zeit.
Felix spielte mit zwei Jungs Skat. Wir hatten es bisher geschafft, vor allen zu verheimlichen, was zwischen uns war. Sogar Sarah hatte dichtgehalten, was ich ihr sonst tatsächlich niemals verziehen hätte. Mindestens bis zur Klassenfahrt, hatte ich ihr eingeschärft, musste sie den Mund halten. Lange konnte
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