Unsichtbare Blicke
es mit dem Versteckspiel nicht mehr gutgehen, das signalisierten mir sämtliche Antennen.
Felix hatte mich bisher nicht ein einziges Mal bedrängt oder etwas verlangt, das ich nicht geben konnte oder wollte, aber in mir wuchs das Gefühl, dass er die Sache zwischen uns irgendwie offiziell machen wollte.
«Jeder Mann will sich mit seiner Frau schmücken», sagte Sarah dazu.
Ein Schmuckstück war allerdings so ziemlich das Letzte, was ich sein wollte.
Kurz hinter Hannover machten wir die erste Pause. Kevin und Dingdong, zwei Typen wie siamesische Zwillinge, feixten hinter einem Typ her, der seit geraumer Zeit mit seinem Volvo an der Stoßstange des Busses klebte, während es irgendwann sogar ein paar Lastwagen geschafft hatten, uns zu überholen.
Felix fing mich auf dem Weg zu den Toiletten hinter der Tankstelle ab. «Haste drüber nachgedacht?», fragte er. «Tun wir es?»
Ich hatte keine Sekunde über die Antwort nachdenken müssen. Jetzt zog ich ihn in die Kammer am Ende des weiß gekachelten Flurs, von dem rechts die Herren- und links die Damentoilette abging. Der Geruch der Pissoirs, der auch in den letzten Winkel des Gebäudes drang, brachte meine Kopfhaut zum Jucken, als habe sich eine Großfamilie Läuse dort eingenistet. Trotzdem zog ich Felix zwischen dem Putzkarren und Stapeln von Ersatzpapiertüchern zu mir heran und küsste ihn ohne Vorwarnung. Seine Zunge erwiderte meinen Überraschungsangriff, trotzdem runzelte er die Stirn.
«Wir schmecken nach Klostein», seufzte er.
Es stimmte. Die Luft dieses Orts legte sich in jede Pore und hinterließ vor allem in Sekundenschnelle einen pelzigen Geschmack auf der Zunge.
«Natürlich tun wir es», beantwortete ich seine Frage auf dem Weg zum Bus.
Am Mittwoch würden wir unseren freien Tag haben, kein Programm mit der ganzen Truppe, keine Lehrer, keine Dauerbewachung, keine Museen.
Felix hatte vorgeschlagen, an diesem Tag in den Spreewald zu fahren; Verwandte von ihm wohnten dort und betrieben einen Bootsverleih. Felix war als kleiner Junge oft dort gewesen.
Für Rexhausen hatte Felix eine hervorragende Begründung, die eine Ablehnung ausschloss: Wir würden das Grab von Felix’ Mutter besuchen, und das stimmte auch. Felix’ Onkel sollte uns abends zurückbringen.
Wirklich begeistert war Rexhausen nicht. «Wir kommen schon pünktlich zurück», drängte Felix, bis Rexhausen einwilligte und wir nach Lübben fahren konnten.
Felix’ Familie mütterlicherseits stammte genau wie meine aus dem Osten Deutschlands; wir hatten allerdings nie bewusst erlebt, wie sehr die beiden Systeme die Menschen auseinandergebracht hatten; er spielte immer wieder damit, eigentlich ein Ossi zu sein, während ich mich zu hundert Prozent wie ein Wessi fühlte. Und beide hatten wir eigentlich keine Ahnung davon, was dieses Gefühl ausmachte.
In Lübben erwartete uns eine Überraschung. Obwohl Felix kaum Kontakt zur Familie seiner Mutter gehabt hatte, empfingen uns seine Leute dort wie alte Freunde, die man aus den Augen verloren hatte, oder wie die Kinder von vor Jahrzehnten ausgewanderten Verwandten, denen nun gezeigt wurde, dass ihre Wurzeln immer in der alten Welt bleiben würden.
Zuerst gingen wir mit einem Strauß Rittersporn zu dem kleinen Friedhof des Dorfes. Felix hatte die hellblauen Blumen an einer Böschung gepflückt. «Sie mochte diese Farbe, Enzianblau, hat sie gesagt, Enzianblau sei die schönste Farbe der Welt und der Himmel …»
Er sprach nicht weiter, sondern drehte die Blumen in der Hand; ein paar der zarten Blüten lösten sich und segelten auf den Boden.
«Egal», sagte er und nahm mich bei der Hand, die er erst wieder losließ, als wir die schmale Eisentür zu den Gräbern hinter uns gelassen hatten. Zielstrebig und mit großen Schritten rannte er bis in die oberste Reihe. An einem Grab, das ich auch schon von weitem als das seiner Mutter erkannt hätte, blieb er stehen. Es war sorgsam gepflegt, während sich um die Grabstelle daneben seit Jahren niemand mehr kümmerte.
Die letzte Ruhestätte seiner Mutter war in weißen Marmor eingefasst, der die Bepflanzung mit allem, was die Flora an Hellblauem hergab, zusätzlich hervorhob. Ein Lavendel wucherte fast über den Stein, in den nur der Name und die Daten ihrer Geburt und ihres Todes graviert waren.
Ich fror, obwohl die Sonne hoch über uns brannte.
Wir standen eine Weile schweigend da. Meine Hand ertastete seine, er umschloss sie und atmete ein paarmal tief durch.
«Ist dein Vater nicht mit dir
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