Unsichtbare Blicke
genervt, von dem Versteckspielen. Warum soll niemand etwas von uns wissen?»
«Willst du mit mir angeben?»
Das war mir rausgerutscht. Ich. Zum Angeben. Mit Mädchen wie Linda oder Sarah gab man an.
«Und wenn?», grinste er mich an.
Endlich wieder sein freches Grinsen.
«Wenn mein Vater vor der Klassenfahrt etwas davon erfährt, brauch ich den Koffer gar nicht zu packen. Und danach streicht er mir alles andere auch.»
«Auch den Computer und so?»
Er klang wieder sehr ernst. Kein Grinsen.
«Den Computer und so? Was genau ist
und so
?»
«Ach nichts.»
Ich schaute auf die Uhr. Ein paar Minuten blieben mir noch, aber tatsächlich nur ein paar. Wahrscheinlich stand mein Vater schon im Flur und wartete. Ich entschied mich zur Offensive. «Hab ich etwas falsch gemacht?»
«Wie kommst du denn darauf?»
«Du machst mich gerade ein bisschen verrückt.»
«Das wollte ich nicht, ich bin nur so, weißt du, ich bin nicht so der Typ, der …»
Er stotterte noch ein bisschen herum. Ich fragte mich, wie fest seine Zehen gerade zusammengekniffen waren.
«Okay», schoss es plötzlich aus ihm heraus. «Wer ist Geronimo?»
Dabei drehte er sich mit einem solchen Ruck zu mir, dass das Wasser an meinen Beinen hochschwappte und ich fast das Gleichgewicht verlor. Ich rutschte auf dem glitschigen Boden der Tränke aus, aber Felix rettete mich mit einem schnellen Griff zu beiden Schultern vor einem unfreiwilligen Bad.
Ich stellte die Füße ins Gras. Das Wasser träufelte in den Staub und vermengte sich damit zu Matsch.
«Woher weißt du von ihm?», fragte ich.
Er schwieg und stellte seine Füße neben meine, so nah, dass ich sie fast spüren konnte.
«Sarah?» Ich konnte nicht glauben, dass sie ausgerechnet mit Felix über Geronimo gesprochen hatte.
Schweigen.
«Also Sarah! Verdammt.»
«Dann hat sie recht?»
«Womit recht?»
«Dass es da noch einen gibt. Sie hat mir auch die Sache mit der Deutschklausur gesagt.»
«Ich hasse sie.»
Ich war mir nicht sicher, ob er meinen Erklärungen Glauben schenkte. Er hörte sich an, wie ich Geronimo beim Chatten kennengelernt hatte, dass ich nicht einmal wusste, wie er aussah, er auch nicht, wie ich, und dass da wirklich, wirklich nichts war.
Statt einer Antwort schob er vorsichtig seinen linken Fuß über meinen rechten. Der vermatschte Schmutz war schon zu einer dünnen Kruste getrocknet. Es scheuerte ein wenig auf der Haut, aber ich spürte die Wärme seiner Fußsohlen. Seine Zehenspitzen begannen mit meinen zu spielen.
Ich küsste ihn auf den Mund. Er öffnete die Lippen einen Spaltbreit. Seine Zunge tastete sich unendlich langsam vor, strich einmal von links nach rechts, drückte sich zwischen meine Lippen.
Wir küssten uns lange. Und tief. Und zart. Und tief.
Felix drängte nicht, das tat gut, er rackerte sich nicht an mir ab, wie es die wenigen Jungs getan hatten, die überhaupt mal so weit gekommen waren. Seine Hände strichen immer wieder links und rechts vom Scheitel zu meinen Wangen; keinerlei Druck ging von ihnen aus.
Meine Finger klammerten sich in seinem T-Shirt fest. Ich spürte, wie ich es nach unten zog, bis irgendwann ein leises Geräusch verriet, dass ich am Halsausschnitt eine Naht eingerissen hatte. Ich ließ locker, und er trat einen Schritt zurück.
Meine Lippen glühten, meine Ohren glühten, alles glühte.
Sein T-Shirt lugte unter der Jacke hervor, ich hatte es fast bis auf seine Oberschenkel gezogen. Er hob die Arme, kreiste mit den Schultern nach vorne, griff mit einer Hand hinten in den Kragen und zog die ausgeleierte Baumwolle nach oben. Bei alledem sagte er nichts, nur ein Laut, von dem ich während des Kusses gedacht hatte, er komme aus meinem Kopf, war in unregelmäßigen Abständen zu hören, während er in seine Chucks stieg und sie verschnürte. Es war ein Brummen, tief in seiner Kehle, vorausging ein seufzendes Luftholen.
«Es wird höchste Zeit», flüsterte er und beendete damit auch den wohligen Brummton.
Bevor er sich noch oberhalb des Abzweigs zu unserem Haus verabschiedete, kramte ich die Holzkette aus der Tasche. Sie war so lang, dass ich sie ihm zweimal um den Hals schlingen musste.
Wie bescheuert, dachte ich, wie endlos bescheuert! Was für ein Kinderkram, du küsst einen Jungen, wie, wie, ach, wie auch immer, du bastelst ihm eine viel zu lange Kette aus albernen Holzperlchen, nicht mal die Flagge stimmt, einem Jungen schenkst du eine blöde Kette wie ein kleines Mädchen, das Prinz und Prinzessin spielt.
Und er sagte
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