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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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und wieder die Blätter in den Bäumen, raschelten in einem Takt, der sich an keine Regeln hielt. Felix sprang über den Graben neben der Straße. Die Furche war ausgetrocknet, aber zu breit, um einfach hinüberzutreten. Er streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie und hätte mich am liebsten nicht mehr gerührt.
    «Hopp», rief Felix, als ich ebenfalls auf die andere Seite sprang.
    «Wo willst du hin?»
    Felix stand schon mit einem Bein auf der unteren Holzlatte des Zauns, das andere schwang er auf die Wiese. «Ein bisschen reiten», sagte er und rutschte im selben Augenblick zur Seite. Er zischte einen derben Fluch. Er war in einen Haufen Pferdeäpfel getreten.
    Ich kletterte vorsichtig hinüber. Felix streifte den linken Fuß im Gras ab. Lustig fand er es offensichtlich nicht, jedenfalls reagierte er auf mein Lachen mit ein paar mürrischen Lauten.
    Irgendetwas stimmte nicht, das konnte ich auch gegen den Wind und Pferdemist riechen. Der kleine Kloß in meinem Magen war sicher keine synästhetische Wirrung.
    «Wie waren die Alten?», fragte er.
    «Nenn sie nicht die Alten.»
    «Aber sie sind alt.»
    Er versuchte, meine Hand zu greifen. Ich ging nicht darauf ein, sondern fummelte an meinem Zopf herum, als wollte ich ihn wieder fester ziehen.
    «Mach doch auf, ist viel schöner», er stotterte, «noch schöner, meine ich.»
    «So wie du es sagst, klingt es schäbig.» Ein paar Tage zuvor auf dem Schulhof hatte er schon einmal einen Spruch über
die Alten
losgelassen.
    «Na ja.»
    «Na ja?»
    «Na ja, was du so erzählst … Das ist doch schäbig.»
    «Die Bedingungen, unter denen sie alt werden, sind schäbig», korrigierte ich ihn.
    «Ist das nicht dasselbe, im Endeffekt?»
    «Möchtest du am Ende des Lebens
Alter
genannt und wie ein Kind behandelt werden?»
    «Werde ich doch jetzt schon», sagte er mit einem Grinsen, das aber sofort wieder aus seinem Gesicht verschwand. «Und darum geht es doch gar nicht.»
    «Um was denn?»
    Er stapfte ein paar Schritte weiter, um sich auf den Rand einer Pferdetränke zu setzen. Aus einem Hahn, der aus einem Tank aus weißem Plastik ragte, tröpfelte Wasser in den halbvollen Trog. Ich setzte mich neben ihn, schlüpfte aus den Ballerinas und streckte die Zehen in das Becken. Das Wasser war angenehm kühl; als ich die Füße ganz hineinsetzte, glitschte der Boden unter meinen Ballen.
    Felix schwieg.
    «Hey, ich hab was gefragt!»
    «Vielleicht ist es besser, überhaupt nicht alt zu werden», murrte er.
    «Vielleicht ist es besser, überhaupt nicht auf der Welt zu sein.»
    Jetzt weiteten sich seine Augen.
    Ich lächelte und forderte ihn auf, die Schuhe auszuziehen, was er nach einem kurzen Zögern auch tat. Mir fiel erst jetzt auf, wie klein seine Füße waren. Marzipanfüßchen, hatte Mama früher dazu gesagt, allerdings hatten sich meine zu echten Kartoffeltretern ausgewachsen. Die Füße waren das einzig Große an mir. Ich verkniff mir das mit den Marzipanfüßchen, kein Mann dieser Welt wollte so etwas hören.
    «Ich möchte sehr gerne alt werden», sagte ich nach einer Weile lautlosem Plätschern von vier Füßen im Wasser.
    «Meinst du das ernst?», fragte er.
    «Natürlich. Ich möchte alt werden, mit fünfzehn Enkeln und noch mehr Urenkeln, und die sollen alle bei mir wohnen.»
    Und gerne auch mit dir!, konnte ich mir gerade noch verkneifen. Im Durchschnitt würden zwei oder drei Ehen samt Scheidungen dazwischenliegen, alles andere nicht gerechnet.
    «Und am Ende der Straße liegt ein Haus am See», sang er leise. «Orangenbaumblüten liegen auf dem Weg, ich hab zwanzig Kinder, meine Frau ist schön …»
    «… alle kommen vorbei, ich brauch nie rauszugehn», stimmte ich ein.
    «Ich kann nicht mal bis zum Abi denken», sagte er plötzlich. Sein Erstaunen über meine Pläne und eine gewisse Verzweiflung mischten sich in seiner Stimme. «Außerdem gibt es das sowieso nicht mehr.»
    «Was ist los mit dir?», fragte ich.
    «Nichts.»
    Natürlich nichts.
    «Ist irgendetwas passiert?»
    «Was soll passiert sein? Es ist nichts.»
    Was sollte auch passiert sein. Das fragte ich mich auch, und blitzartig schoss mir durch den Kopf, ob das
nichts
vielleicht einen Namen hatte, einen Vornamen. Einen weiblichen Vornamen.
    «Hat es was mit uns zu tun?»
    Er lächelte. «Uns. Das klingt gut.»
    Ich atmete aus, wahrscheinlich etwas zu geräuschvoll. Die Zehen unter Wasser hatte ich fest zusammengekniffen.
    «Hey, lass dir nicht die Würmer aus der Nase ziehen.»
    «Ich bin ein bisschen

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