Unsichtbare Blicke
hierhergefahren?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Ich wollte nicht.»
Mehr gab es nicht zu sagen, nicht im Moment, das spürte ich.
Er wendete sich wenige Sekunden darauf von der Grabstelle ab. Langsam bewegte er sich zwischen den Reihen hindurch, die auf dem Hauptweg endeten. Stille breitete sich aus, die nur vom kaum wahrnehmbaren Rauschen der Pappeln, die den Friedhof umgaben, und dem Knirschen der Kieselsteine unter unseren Füßen durchbrochen wurde. Nach ein paar Metern blieb Felix stehen.
«Ich weiß nicht, ob ihr das gefällt: weißer Marmor, goldene Buchstaben. Sie war ein Stadtmensch und ein Freak.» Ein liebevolles Lächeln huschte über Felix’ Miene. «Ich würde das vorher bestimmen.»
«Dafür ist aber noch Zeit.»
Ich versuchte, meiner Stimme einen lockeren Ton zu geben, aber der Satz zermatschte, während ich die Worte sprach, zu dem, was er war: ein platter Spruch. Ich nahm den Rittersporn aus seiner Hand; er hatte die Stängel in der Hand gequetscht und vergessen, die Blumen dort zu lassen. Am Ausgang vor dem Eisengitter fand sich eine Wasserstelle, daneben standen ein paar Gefäße, die niemand zu gehören schienen. Ich nahm ein bauchiges Glas, füllte es mit Wasser und knipste die zerdrückten Stiele des Rittersporns ab. Felix lächelte mich an. Er nahm das Glas mit den Blumen aus meiner Hand.
«Auch eine Karriere: geboren, um Spreewaldgurken ein Zuhause zu bieten, aber jetzt für alle Ewigkeit eine Vase auf letzten Ruhestätten! Was will uns das sagen?»
«Augen auf bei der Berufswahl?»
Felix lachte und zog mich mit der freien Hand zu sich. Er legte das Kinn an meinen Scheitel. Dann drehte er sich plötzlich um, lief zurück und stellte die Blumen auf das vernachlässigte Grab neben dem seiner Mutter.
«Damit Herr Retzow nicht immer neidisch zu meiner Mum rüberschauen muss.»
Ein paar Minuten später wusste ich beim Anblick des Gartens von Felix’ Verwandten sofort, wer sich um das Grab kümmerte. Frau Dörrkamp, die Schwester von Felix’ Mutter, hatte jeden freien Fleck rund um den Rasen mit ähnlichen blauen Blumen bepflanzt, wobei sie auch hier eine besondere Vorliebe für Lavendel in unterschiedlichen Formen und Tönen an den Tag legte.
Nach einer knappen Stunde konnte ich kaum noch piep sagen. Bei der Erdbeertorte ging nichts mehr. Rhabarberstreusel und Mohnzopf hatte ich locker, die Eissplittertorte schon nur noch mit einiger Mühe verputzt.
Die Kaffeetafel für mindestens zwanzig Leute hatten die Dörrkamps im Garten unter einem Apfelbaum von unglaublicher Größe aufgestellt, ein Sammelsurium von Stühlen und Hockern säumte beide Seiten des Tischs. Obwohl es mitten in der Woche war, hatte sich Felix’ halbe Verwandtschaft eingefunden. Mindestens.
Es fehlte nur noch eine Blaskapelle und eine sorbische Trachtengruppe, die Felix mir schon zu Hause im Internet gezeigt hatte. Immerhin fuhr ein Kahn voller Touristen, den ein junger Sorbe im typischen Outfit der Minderheit mit einer langen Stange voranstakste, über den kaum zwanzig Meter entfernten Kanal.
«Wir machen fast alles mit Booten, bei einigen kommt sogar die Post mit dem Boot», erklärte einer der Männer am Tisch, die sich zwar alle überschwänglich und freundlich vorgestellt hatten, deren Namen mir aber sofort wieder entfallen waren.
Felix hatten sie ganz ans andere Ende des Tisches gesetzt; er schaute gelegentlich besorgt zu mir herüber. Ich winkte ihm fröhlich zu, um ihm zu zeigen, dass ihm seine Verwandtschaft überhaupt nicht peinlich sein musste, im Gegenteil. Ich fühlte mich wohl. Ich hatte noch nie ein solches Fest erlebt, und mir wurde bewusst, wie klein und überschaubar meine Familie war.
Eigentlich konnte man gar nicht von einer Familie sprechen, wenn man es mit dieser Versammlung hier verglich. Vater, Mutter, Kind – aus die Maus. Das waren die Sonnleitners. Ich fragte mich, ob es in Potsdam, woher meine Eltern stammten, noch andere Sonnleitners gab. Oder Kücks, wie meine Mutter mit Mädchenname hieß. Es würde keine Zeit bleiben, um es herauszufinden.
Irgendwann war ich doch froh, als wir uns endlich loseisen und die angekündigte Kanutour machen konnten. Viel Zeit blieb nicht mehr, wenn wir rechtzeitig wieder in der Jugendherberge sein wollten, aber zwei, drei Stunden konnten wir noch durch die unzähligen Flüsschen und Fließe des Auenwaldes paddeln.
«Ich hoffe, du kennst dich aus», flüsterte ich, als wir in die Kanus stiegen.
«Ich hoffe, du gehst nicht unter», antwortete
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