Unsichtbare Blicke
viel besser als im Bunker zu sitzen. Geburtstag war anders.
Er konnte sich daran erinnern, aber er würde erst wieder Geburtstag feiern, wenn er zu Hause war. Vielleicht feierten seine Eltern für ihn, auch wenn er nicht da war, wo auch immer sie nun waren, sie würden es machen wie früher, als sie noch in der Nähe von Gera gewohnt hatten, in dem Häuschen, kein großes, aber mit einem Garten und einem Stall für die drei Hasen: Krokus, Glocke und Isi.
Einen Kuchen hatte es gegeben, mit blauem Zuckerguss und einem Holzreif obendrauf, in dem die Kerzen steckten, die er auspusten musste, draußen im Garten, wo alle seine Freunde warteten, mit Luftballons an den Stühlen und Clowns-Servietten und einem Kranz aus Luftschlangen um seinen Platz, damit jeder wusste, wo das Geburtstagskind saß.
Und Broiler, abends gab es statt der Brote mit Schmierkäse und kaltem Bohnensalat einen Broiler und Geschenke und ein Paket aus dem Westen, von Papas Tante, mit Kaffee für Mama und Schokolade für ihn, Schokolade, die schon in Stücke geschnitten war.
Eine von den Betreuerinnen hatte ihn im vorigen Jahr in den Bunker gesperrt und ihm vorher alle Sachen abgenommen, nur die Unterhose hatte sie ihm gelassen und gelacht, weil sie gelb vorne war, nur ein kleiner Fleck, aber sie hatte ihn gesehen und ihn beschimpft, hatte Dinge gesagt, für die er sich schämte.
Das war ungerecht, dass man sich für Dinge schämen musste, die andere sagten, und er war steif geworden, und sie hatte es gesehen und ihm die Unterhose runtergezogen und wieder gelacht und auf sein Glied gezeigt, das hart geworden war, obwohl sie all die Sachen gesagt hatte, dass er nie eine kriegen würde, wenn er mit stinkender gelber Unterwäsche rumliefe, keine würde ihn ranlassen, nicht mal an die Muschi von Elfe dürfe er, und sie hatte gelacht, ja, sie wisse das, natürlich wüssten sie, was die Jungs mit Elfe machten, aber das sei besser, als dass sie in ihren Hormonen ertränken.
Er hatte keinen Mucks getan, sonst wurde alles noch schlimmer. Er hatte nur da gestanden und auf sein Geschlecht geschaut und auf die Unterhose, die auf seinen Knien hing. Nur ein kleiner gelber Tropfen. Aber er wusste, dass es nicht ewig dauern konnte, nicht mehr sehr lange jedenfalls, vielleicht war es sein letzter Geburtstag im Bunker. Im nächsten Jahr wäre er volljährig, dann mussten sie ihn gehen lassen. Er hatte durchgehalten und gute Noten gehabt, er würde den Abschluss auch noch schaffen, er war besser als alle anderen, auch wenn sie ihn dafür hassten.
Es war kalt im Bunker. Durch das Lüftungsgitter an der Decke strömte eisige Luft herein. Es musste einen Schacht geben, der ganz bis oben, nach draußen führte, vielleicht, so redete er sich manchmal ein, führte der Belüftungsschacht tief unter der Erde entlang, immer weiter, bis nach drüben, zu den Eltern. Er musste nur wachsen, wachsen, bis er an das Gitter langen und es herausreißen konnte. Noch war er dafür zu klein.
Im Januar war es eisig kalt, und er war ein paarmal krank gewesen, nachdem sie ihn wieder rausgelassen hatten. Sein Geburtstag konnte auch schnell drei oder vier Tage dauern. Der Raum hatte kein Fenster, in der Mitte ein Abfluss, ein viereckiges Loch, über das sie ein verrostetes Gitter geschweißt hatten.
Es roch nach Scheiße und Pisse aus dem Rohr, obwohl es dafür einen Blecheimer in der Ecke gab und er ihn auch benutzte und darauf achtete, dass der Deckel fest saß.
Manchmal roch es auch wie die tote Maus, die mal einen Kurzschluss verursacht hatte, hinterm Kühlschrank hatte sie an einer Stromleitung geschmort und süßlich gerochen. «Das ist Verwesung», hatte der Elektriker gesagt und die halb matschige und halb verkohlte Maus hochgehalten, «so geht es uns allen, eines Tages!», hatte er gesagt, und Papa hatte mit ihm geschimpft.
Das war vorher, in der Zeit hinter dem Meer, er stellte sich diese Zeit immer hinter dem Meer vor. Es war nicht nur eine gute Zeit gewesen, hinter dem Meer, oh nein, eine Maus war an dem offenen Stromkabel hinterm Kühlschrank gestorben, und er hatte nach dem Sandmann ins Bett gemusst, nie länger gucken dürfen. Schnatterinchen und Moppi schlafen auch gleich, ja. Er wusste, hinter dem Meer war nicht die Zeit mit Kerzen auf dem Geburtstagskuchen und dem Zoo und Schubkarre spielen mit Papa, der so schwere Schenkel hatte, dass Mama am Anfang immer ein Bein nehmen musste und der andere Junge das zweite.
Der andere Junge. Der Junge, der er gewesen war, bevor er
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