Unsichtbare Blicke
Achse, lächerlich, ich suchte das Zimmer mit Blicken ab, löste mich aus der Erstarrung und begann, ziel- und planlos in meinen Sachen zu wühlen.
Die Bücher im Regal hinter dem Schreibtisch, die kleine Sammlung von Plüschtieren, die sauberen Klamotten, die Mama gewaschen und gefaltet auf das Bett gelegt hatte, alles landete auf dem Boden, eine Glasschale, die Sarah mir einmal vom Flohmarkt mitgebracht hatte, zerbrach. Das Klirren holte mich zurück.
Kurz darauf klopfte es an der Tür.
«Ist alles in Ordnung?», hörte ich die Stimme meines Vaters.
Mein Vater!, schrie etwas in mir, es war etwas, etwas, nicht ich, etwas, das eigenständig von mir war, es war in mir, aber gehörte doch nicht zu mir. Er hat mich beobachtet, nur er kann hier herein, mein Vater, mein eigener Vater, klirrte das schrille Organ in meinem Kopf, und ich konnte es für ein paar Sekunden nicht zur Ruhe zwingen, bis ich die geballte Faust zwischen die Zähne stopfte und zubiss.
Der metallische Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus. Als ich merkte, dass ich dabei war, meine eigenen Finger zu zerbeißen, konnte ich die Schreie in mir endlich unterdrücken, und einen Moment darauf setzte mein Gehirn sich wieder im Normalmodus in Gang, halbwegs normal.
Ich bemühte mich, meiner Stimme einen unbeschwerten Klang zu geben, und beruhigte ihn. «Mir ist die hässliche Schale von Sarah runtergefallen, nichts passiert», rief ich, ohne ihn zum Hereinkommen aufzufordern.
Was für ein Schwachsinn, du drehst gerade durch, so schnell kann es gehen, beruhigte ich mich selbst.
Warum sollte er seine eigene Tochter in ihrem Zimmer aufnehmen, warum sollte er ihr damit drohen, das Bild auf der Homepage der Schule zu posten, er würde selbst am meisten darunter leiden, seine Gemeinde würde ihn zum Rapport vorladen, er würde den Job als Hausmeister aufs Spiel setzen, sie waren nicht zimperlich mit Anhängern, die sich und ihre Familie nicht im Griff hatten, warum sollte er seine Tochter so entblößen, so vorführen?
Ich spürte, dass er noch ein paar Augenblicke schweigend vor der Tür verharrte. Die Treppenstufen knarrten, er musste wieder unten im Wohnzimmer angekommen sein. Erst jetzt gab ich den Schluchzern freien Lauf und räumte weiter das Zimmer auf. Still und mit zittrigen Händen stellte ich die Bücher wieder ins Regal.
Anschließend setzte ich mich vor den Computer und betrachtete den Bildschirm. Ein karibischer Strand mit weit über den Sand ragenden Palmen zerlegte sich in Puzzleteile und setzte sich wieder neu zusammen, nach dem Zufallsprinzip. Wenn man den Bildschirmschoner durch den Druck auf eine Taste beendete, ordnete sich das Ganze wieder zu dem fertigen Bild und verschwand sofort.
Darunter kam ich zutage.
Mit Körperlotion am Oberschenkel, in der linken Hand die blauweiße Flasche, die rechte verteilte die Creme. Eigentlich passierte nichts Böses auf dem Bild: mein nackter Körper ein wenig vorgebeugt, ein Fuß auf den Schreibtischstuhl gestützt, die weiße Flüssigkeit, die Finger, die fast in meiner Scham verschwanden, das Lächeln auf meinen Lippen.
Der Oberarm verdeckte wenigstens meine Brüste. Es war so intim, eben weil nichts augenscheinlich Schlimmes passierte, nicht nur intim, obszön, ich fand es obszön und erniedrigend. Die Vorstellung, dass Kevin und Dingdong, Rexhausen, dass einfach jeder mich so sehen konnte, verwickelte sich zu einem glühenden Knoten in meinem Bauch.
Ich wusste nicht, wie lange ich so dasaß. Irgendwann loggte ich mich im Chat ein.
Nach einer Stunde tauchte Geronimo auf.
Du gibst dir keine Blöße, schwor ich mir und musste lachen. Keine Blöße geben, wie lächerlich: keine Blöße! Ich wollte nicht wissen, wie viel Blöße er schon von mir gesehen hatte. Aber ich wollte wissen, wie er es gemacht hatte.
«Es gibt Eichhörnchen, die fahren Wasserski», blinkte im Chatfenster auf.
«Wie hast du das gemacht.»
«Ich musste es tun.»
«Aha, du
musstest
es tun?»
Weil du ein perverses Arschloch bist, deshalb
musstest
du es tun, oder warum?, hätte ich am liebsten geschrien, doch ich hielt mich zurück.
«Jemand muss auf dich aufpassen.»
Ein Lachen platzte aus mir heraus, empört, wie eine Explosion. Ich konnte mich kaum beherrschen.
«Lach nicht.»
«Wie hast du das gemacht», wiederholte ich.
Statt einer Antwort im Chat, meldete sich mit einem leisen
Pling
das Mailprogramm mit einer neuen Nachricht.
«Schau in deine Mails», tickerte Geronimo.
Der Absender war
Weitere Kostenlose Bücher