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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Tommi wurde. Der andere Junge, der andere. Hinter dem Meer, in der anderen Zeit. Eines Tages würde er wieder der andere Junge sein und Tommi zurücklassen.

24
    Ich fragte mich nach unserer Rückkehr aus Berlin jeden Tag, ob es mir nicht ins Gesicht geschrieben stand. Jeder muss es sehen, in großen Buchstaben steht es auf deiner Stirn, dachte ich, nein, aus jeder Pore quoll es, jeder Blick plauderte es aus, jede Geste hatte das gewisse Mehr, selbst beim Ausräumen der Spülmaschine glaubte ich mich zu verraten.
    Die etwas kratzige Decke, das Gluckern des Wassers, Rascheln in den Büschen, Vogelschreie, Felix’ Hände, sein Körper, der schmal, aber doch kräftig war und geschmeidig, die tiefen Küsse, die immer fordernder geworden waren – alles war verschmolzen zu etwas, das ich noch nicht gekannt hatte; eine wirre Mischung aus Lust, Phantasien, Wirklichkeit – und vor allem wusste ich nun, wie sich Loslassen anfühlte. Loslassen, losgelöst, alles vergessen.
    Die Frage, ob sich nicht doch ein Kanute zu dem verlassenen Plätzchen verirren könnte oder plötzlich ein Förster mit seinem Dackel vor uns stehen würde, hielt mich noch ein paar Minuten im Zaum, und natürlich fragte ich mich, woher Felix diesen Ort kannte. Einen Hauch von Irritation hatte es gegeben, als er ein Kondom aus der Tasche zog.
    Er hat damit gerechnet, dachte ich, und dann war ich unendlich froh, dass er damit gerechnet hatte und dass es diese Gummis in seiner Tasche gegeben hatte, glücklicherweise zwei, weil das erste im Gewurstel unterging und im Dreck landete. Er wirkte nicht so, als sei er rasant geübt im Umgang mit den Dingern, und ich war ein bisschen erleichtert.
    Sarah lachte sich am Abend in der Jugendherberge halb tot, weil ich an den unmöglichsten Stellen Sonnenbrand und Mückenstiche hatte, aber ich beharrte auf meiner Fassung der Geschichte: Wir hatten uns gesonnt und irgendwie nicht gemerkt, wie viel Mückenviecher um uns herum surrten.
    Mich störte es nicht. Ich würde diesen Ausflug nie vergessen, das stand fest. Nur Geronimo machte mir Sorgen. Das E-Mail-Postfach war fast übergequollen. Geronimo hatte es mit Nachrichten zugeschüttet, in denen er mich drängte, ihm zu schreiben, mich bei Chatattack 4 U zu melden. Aus Bitten und Flehen war ziemlich schnell ein drängender, dann fast ein drohender Ton geworden, bis ich ihm doch noch einmal antwortete, er solle mich in Ruhe lassen, zur Not würde ich ihn auf die Spamliste setzen und mir in Chatattack 4 U einen neuen Namen zulegen oder mich gleich ganz ausloggen.
    Ich hatte Felix versprochen, den Kontakt abzubrechen. Ich kam mir ein bisschen schäbig dabei vor, aber das echte Leben hatte Vorrang, Felix hatte Vorrang, vor allem und jedem, erst recht nach dem Erlebnis im Spreewald. Ich hatte mir fest vorgenommen, ihn bei der nächsten Gelegenheit einzuladen. Meine Eltern sollten ihn kennenlernen, bevor irgendein Gerücht zu ihnen durchdrang, denn das würde es über kurz oder lang.
    Aber erst nach den Ferien, die gerade begannen.
    Ein paar Tage später erhielt ich eine E-Mail von einem unbekannten Absender. Es hing eine Datei daran, weshalb ich die Mail ungelesen löschte. Erst auf den zweiten Blick nahm ich die Worte im Betreff wahr. Ich öffnete das Verzeichnis mit den gelöschten Mails.
    Eichhörnchen auf Wasserski
stand dort. Ich hatte mich doch nicht verlesen. Der Anhang endete auf .
jpg
, ein Foto also.
    Zur Sicherheit startete ich das Antiviren-Programm, das eigentlich jede Mail automatisch überprüfte. Der Rechner brauchte fast eine Viertelstunde, dann war der Bericht fertig. Ergebnis: keine infizierten Dateien gefunden. Ich öffnete die E-Mail.
    Du musst mit mir reden. Schau dir das Foto an und sprich mit mir. Geronimo.
    Mit einem Doppelklick öffnete ich das Foto.
    Und erstarrte.
    Die Qualität der Aufnahme war schlecht, aber man konnte mich gut erkennen. Nicht nur mich, sondern auch mein Zimmer, im Hintergrund das Bett, mein Vögelchen-Wecker, die Lampe aus Reispapier, alles in schwachem Licht, grünstichig und deutlich sichtbar mein Körper, wie ich ihn mit Lotion cremte, genau in dem Moment, als ich mir die weiße Flüssigkeit über die Innenschenkel rieb. Mein Gesicht war zu erkennen, obwohl ein schwarzer Balken über meinen Augen platziert war.
    Ich spürte, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. Mir wurde schwindelig, obwohl ich tief und schnell die Luft einsaugte oder vielleicht gerade deshalb. Ohne nachzudenken drehte ich mich langsam um die eigene

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