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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Vater ihn ein kleines Stückchen unter die schmale Häkeldecke geschoben hatte. Er musste schon gestern angekommen sein.
    Ich wusste genau, dass Papa die Post entgegengenommen, dass er diesen Umschlag dorthin gelegt hatte und dass er keinen Ton darüber verlieren würde.
    Den dünnen Umschlag mit einem Adressetikett und einer selbstklebenden Briefmarke aus einer Serie von Wohlfahrtsmarken genau dort und genau so im Flur zu deponieren, war ein stilles Signal: Ich habe diesen Brief gesehen, ich respektiere deine Privatsphäre.
    Er war nicht an Josefa Sonnleitner adressiert, sondern an Josie. Es war nichts «Offizielles», auch wenn das Adressetikett mit dem Drucker beschriftet war, nichts von der Schule oder von der Verwaltung des
Fürstlich Bergfeldschen Stifts
, die gelegentlich eine Weihnachtskarte oder einen Spendenaufruf verschickte. Dann hätte mein voller Vorname darauf gestanden.
    Das Motiv der Briefmarke war eine Erdbeere. Ich spürte den Geruch, noch bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, von wem er stammte.
    Sie dufteten, oder besser gesagt, sie imitierten den Duft von Früchten. Wie ein lästiger Juckreiz auf dem Rücken kam es bei mir an, denn es hatte eigentlich nichts mit dem Geruch echter Erdbeeren zu tun. Die künstlichen Aromen konnten ihre chemische Herkunft nicht verbergen, kaum jemanden vermochte man mit so etwas weniger zu betrügen als mich.
    Einen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, den Brief einfach liegen zu lassen, bis ich wieder zurück von meiner Schicht war. Sobald ich ihn an mich genommen hatte, tickte die Uhr, wie bei einer Quizshow, verloren sich kleine Leuchtbalken, tick tick tack tack, bis der Kandidat unweigerlich eine Antwort geben musste oder verlor. Loggen Sie eine Antwort ein, von wem ist der Brief, Josie, wer schreibt dir, dir schreibt sonst nie jemand, jedenfalls nicht per Post, was du mit deinem Computer treibst, wissen wir ja nicht, was ist in diesem Umschlag, Josie, bitte logge deine Antwort ein.
    Ich schnappte den Brief; es war etwas Rechteckiges darin, dicker und steifer als ein Blatt Papier, man konnte es durch den Umschlag spüren. Ich stopfte ihn ungeöffnet in meine Tasche. Wenn ich den Bus noch erreichen wollte, musste ich mich beeilen.
    An der Haltestelle stand der Bus bereits. Ich wusste, dass Bugsie wartete, ich hätte nicht laufen müssen, aber ich tat es. Die Abfahrtszeit war schon verstrichen, trotzdem machte Bugsie keinerlei Anstalten weiterzufahren. Erst als ich keuchend eingestiegen war, legte er den Gang ein und setzte den Blinker. Er zwinkerte mir zu. So viel Zeit muss sein, bedeutete er mir. Er wusste, dass ich um diese Zeit ins Altenheim fuhr und dass ich aufgeschmissen war, wenn ich seine Kutsche verpasste.
    Eine schwitzende Frau fächelte sich Luft zu. Ich kannte sie irgendwo her, konnte ihr Gesicht aber nicht zuordnen.
    «Na endlich», zischte sie. Ihr Blick war mehr als deutlich. Für mich hätte der fette Sack nicht gewartet, stand darin geschrieben, aber so ein junges Ding, Männer, alles Schweine.
    Wie immer saß ich weit vorne, allerdings nicht direkt in der ersten Reihe, weil ein paar Jungs in Trikots, an denen noch der halbe Fußballplatz klebte, diese Sitze verteidigt hätten wie ihren Strafraum beim Spiel.
    Ich brauchte drei Haltestellen, bis ich endlich den Brief aus meiner Tasche ziehen konnte. Das Jucken setzte unvermittelt ein, ein lästiges Kribbeln auf dem Rücken. Ich schob den kleinen Finger in den schmalen Ritz an einer Seite des Umschlags und öffnete ihn an der Längsseite.
    «Ist da frei?», fragte jemand neben mir.
    Ein Mann stupste mich an. Um seinen Hals baumelte ein Fotoapparat. Er trug grün und gelb karierte Shorts, die knapp über den Knien endeten, knapp darunter begannen stramm hochgezogene Strümpfe, die wiederum in Trekking-Sandalen steckten. Ich hatte noch nie so knochige und so weiße Knie gesehen.
    Ich begriff nicht sofort, was er wollte.
    «Kann ich auf den Platz da», drängte er.
    Es gab noch mindestens acht oder neun leere Bänke, aber er musste sich neben mich zwängen. Da er nicht auf eine Antwort wartete, nahm ich meine Tasche vom Sitz neben mir.
    «Ganz schön heiß heute», startete er sofort ein Gespräch oder versuchte es zumindest. Bei jeder Silbe schlappte sein Gebiss ein wenig nach, schlecht angepasst oder keine Haftcreme, ich kannte das von den Leuten im Altenheim. Er fragte, wohin ich wolle, warum ich nicht im Schwimmbad sei, und ich machte den Fehler, ihm zu antworten, dass ich arbeiten

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