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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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derselbe, eine sinnlose Buchstabenkombination und ein paar Zahlen; es hing wieder eine Datei, ein Bild, dran. Ich öffnete den Anhang, gefasst darauf, dass er noch mehr auf Lager hatte. Es war schlimmer. Mein entsetztes und trotzdem zu einem Lachen verzerrtes Gesicht starrte mich an, ein eingefrorener Moment, der alle Gefühle gleichzeitig gefangen hielt.
    Ich. Vor nicht einmal zwei Minuten. Obwohl ich es nicht wirklich verstand, war mir klar, wie er es machte. Ich brauchte keine Antwort.
    «Du bist ein Schwein», flüsterte ich. «Kannst du mich auch hören?»
    Es kam nichts.
    «Kannst du mich auch hören», schrieb ich.
    «Nein», antwortete er.
    Dann begann er, sich zu entschuldigen, es schönzureden, immer wieder, dass er auf mich aufgepasst hätte, nicht mehr, nur aufgepasst. Ich starrte auf den Bildschirm, in die winzige Kamera. Sollte er so viele Bilder von mir machen, wie er wollte. Sollte er die Tränen sehen. Und die Wut. Und die Verachtung.
    «Wer bist du?», schrieb ich auf jede seiner Nachrichten. Immer wieder. Wer bist du. Wer. Wer. Wer. Bist. Du.
    Er wich aus, faselte erneut etwas davon, dass er auf mich aufpasse.
    Nach einer Weile klebte ich ein Pflaster auf die Linse der Webcam. Mama hatte es mir vor Ewigkeiten – «für kleine Wehwehchen», wie sie es ausgedrückt hatte – in den Rucksack gesteckt.
    Schon damals waren mir die Bienchen und Blümchen darauf peinlich gewesen. Ich hatte nie eines davon benutzt, nur einmal, als Sarah sich eine Blase in den neuen Stiefeln gelaufen hatte. Aber ich hatte sie auch nie weggeworfen.
    «Das ist okay», erschien als nächste Nachricht von Geronimo.
    In mein Entsetzen mischte sich immer mehr Wut, blanke Wut. Das ist okay? Oh ja, du Schwein, das ist okay, sehr okay. Was für ein Ton, was für eine Frechheit, das ist okay!
    Ich warf mich aufs Bett, atmete, versuchte, mich zu beruhigen. Ärger bahnte sich seinen Weg, Ärger über mich selbst. Wie dämlich war ich gewesen, wie dämlich, dauernd las und hörte man von Arschlöchern im Internet, und ich hatte schon oft darüber gelacht, wenn dusselige Tussis irgendetwas anklickten und dann einen Virus auf der Festplatte hatten. Und jetzt ich. Jemand schaute mit meiner Webcam in mein Zimmer und beobachtete mich, wie ich nackt vor dem Spiegel stehe, wie ich versuche, meine Brüste in einen Push-up zu zwängen, wie ich Topmodel spiele, mit der Haarbürste als Mikrofon in der Hand singe und was noch alles.
    Und er speicherte die Fotos. Morgen würden sie wahrscheinlich auf der Schulhomepage stehen.
    Mein Mund trocknete aus, mein Atem ging zuerst schneller, kurz darauf spürte ich, wie mir die Luft knapp wurde, weil ich nicht weitergeatmet hatte.
    Er will dich erpressen, dachte ich.
    Es bedurfte nicht mehr ausgeschnittener Buchstaben aus einer Zeitung, so wie sie Erpresser in alten Filmen nutzten, um jemand Lösegeld für etwas abzuknöpfen. Die Mail war auch nicht anonym, schließlich stand sein Name darunter.
    Natürlich ist es anonym. Geronimo. Was für ein Name. Ein Indianerhäuptling, so viel wusste ich von ihm, seit hundertfünfzig oder wie viel Jahren tot.
    Ein Pornobild, mit einer Bildbearbeitungssoftware manipuliert, mein Gesicht auf den Körper einer vollbusigen Darstellerin gesetzt, mit der gerade sonst etwas passierte. Ich hätte darüber gelacht, solche Sachen kamen immer wieder vor, weil irgendein Witzbold sich einen Spaß machen wollte. Im letzten Jahr war deshalb ein Typ sogar kurz vor dem Abitur von der Schule geflogen.
    Aber das war ich, ich, für alle sichtbar.
    Zum Abendessen, zu dem Mama mich kurz darauf rief, ging ich wie jeden Abend hinunter in die Küche. Die Diskussionen mit meinem Vater hätte ich nicht durchgestanden; er bestand auf einer gemeinsamen Mahlzeit am Tag, einen Anlass für bohrende Fragen wollte ich ihm nicht geben. Lediglich
Frauenprobleme
oder eine handfeste Krankheit ließ er als Ausrede gelten. Meine Tage hatte ich vor kurzem gehabt.
    Mama beobachtete, wie ich im Gurkensalat herumstocherte, ein Käsebrot hinunterwürgte. Ich plapperte los, erzählte von Sarahs Urlaub, den ihr die Eltern spendiert hatten.
    «Eine Woche Türkei, um sich von der Klassenfahrt zu erholen», scherzte ich so gekünstelt, dass es selbst dem größten Idiot hätte auffallen müssen, wie wenig dieses Mädchen am Tisch mit der Josie von gestern oder mit der Josie an einem Mittwoch im Spreewald zu tun hatte.
    Während ich den Satz aussprach, wurde mir klar, dass Sarah nicht da war. Dass ich sie nicht

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