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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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anrufen konnte. Sie hatte das Handy ausgeschaltet, wegen der Roaming-Gebühren. Sie kam erst übermorgen zurück. Von Felix ganz zu schweigen, der fast die ganzen Ferien unterwegs war, mit ein paar Freunden, irgendwo in Südosteuropa. Er hatte die lange geplante Reise absagen wollen, um bei mir zu sein, aber ich hatte ihn davon abgebracht. Ich hatte Angst, dass er es am Ende bereuen würde. Es war mir schwergefallen, beim Abschied nicht doch wieder umzukippen, ihn zu bitten dazubleiben. Jetzt bereute ich es.
    «Kind, du musst was essen», ermahnte Mama mich, bevor ich ins Bett ging. «Nicht dass wir nach Hause kommen, und du bist nur noch ein Strich in der Landschaft.»
    Ich quälte mir wieder ein Lächeln ab. Sie starteten bald ihre jährliche Pilgerreise nach Polen, eine ganze Woche. Letztes Jahr hatte ich noch mitfahren müssen. Nach endlosen Diskussionen und einer Latte von Ermahnungen hatte ich es dieses Jahr geschafft. Ich durfte zu Hause bleiben. Alleine.
    Jetzt wünschte ich mir plötzlich, sie blieben hier. Oder auch nicht, ich wusste es nicht.
    Der Gedanke an den Raum im ersten Stock, der mein Reich und meine Zuflucht gewesen war, an den Computer, an die Kamera stieg augenblicklich wieder in mir auf. Vor der Zimmertür blieb ich stehen. Die Klinke in meiner Hand schien zu glühen. Ich konnte sie nicht hinunterdrücken, und ich konnte sie nicht loslassen.
    «Du machst mir Sorgen», hörte ich die Stimme meines Vaters hinter mir. «Ist alles in Ordnung?»
    Ich zuckte zusammen; mir entfuhr ein schriller, kurzer Schrei.
    «Wenn du dich nicht von hinten anschleichst, ist alles in Ordnung», patzte ich ihn an.
    «Du hast mindestens ein paar Minuten hier gestanden und die Klinke angestarrt.»
    «Es ist alles in Ordnung», sagte ich und verschwand in meinem Zimmer. Ich lehnte mich von innen an das Holz. Mein Bademantel hing an einem Haken an der Tür. Das zerschlissene Frottee verströmte einen intensiven Geruch, weil ich den Mantel immer anzog, wenn ich mich eincremte.
    Der Gedanke sperrte sich. Aber der Geruch durchdrang alles.
    Körperlotion, die Hausmarke der Drogeriekette. Ich benutzte sie, weil sie billig war, aber auch weil der sanfte Duft nach Mandelöl dieses Kribbeln auslöste, wie Gänsefedern, die über die Haut strichen, gegen die eigenen Härchen; ein Geruch, der ein bisschen quälte und gleichzeitig schmeichelte. Es war einer der seltenen Fälle, in denen ich meine sonderbaren Gefühlsverwirrungen, die meine Sinneszellen in der Nase mir bescherten, ohne Einschränkung genießen konnte. Gekonnt hatte.
    «Gute Nacht, Papa», rief ich.
    Papa. Ich nannte ihn nie Papa. Wahrscheinlich wusste er jetzt ganz sicher, dass etwas nicht in Ordnung war, aber wieder hörte ich die knarrenden Stufen der Holztreppe, als er nach unten ging.
    Sofort schnappte ich mir den Bademantel, er roch, roch nach der Creme, nach Mandelöl. Ich riss die Tür auf und rannte ins Badezimmer, stopfte das Kleidungsstück in die Wäschetonne, vielleicht würde ich es entsorgen, wenn meine Eltern weg waren, ich würde ihn wegwerfen, verbrennen, duschen, der Bademantel, nach dem Cremen, Mandelöl. Nie wieder.
    Ich schaute mir das Bild noch einmal an.
    Es kostete Überwindung, das Verwackelte, das schlechte Licht, es machte es so, so, so … schmutzig. Auf der Fensterbank im Hintergrund konnte ich den Hasen aus Schokolade erkennen, den Sarah mir vorm Beginn der Osterferien geschenkt hatte. Er war längst vertilgt, Vergangenheit, nur das goldene Glöckchen, das er um den Hals getragen hatte, hing jetzt noch an der Schreibtischlampe.
    Er war schon seit Monaten in meinem Zimmer gewesen. Unsichtbar, mit seinen Blicken immer da.
    Ich setzte mich wieder vor den Computer. Geronimo war noch eingeloggt.
    «Was willst du von mir?»
    Er antwortete nicht.
    «Holst du dir einen auf mich runter? Ist es das? Willst du alles sehen? Hast du spezielle Wünsche? Soll ich dir meine Muschi zeigen, willst du das, willst du sie sehen …» Meine Finger hämmerten auf die Tastatur, ich zischte die Worte dabei mit zusammengebissenen Zähnen, um sie nicht hinauszuschreien.

25
    Ich fand den Umschlag zwei Tage später neben dem Telefon auf dem Schränkchen im Flur. Ich hatte zwei Nächte ohne Schlaf hinter mir. Meine Eltern waren in aller Frühe zu ihrer Wallfahrt aufgebrochen.
    Der Brief lag auf der Kante, über Eck, flach auf dem polierten Holz. Er konnte nicht hinuntergeweht werden, beim Vorbeigehen oder durch einen Windstoß beim Öffnen der Haustür, weil mein

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