Unsichtbare Blicke
weil du etwas weißt. Etwas, das du nicht erklären kannst. Aber du fühlst es. Du fühlst es schon dein ganzes Leben lang, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Du weißt nicht, was, aber es ist da. Wie ein Splitter in deinem Kopf, der dich verrückt macht. Dieses Gefühl hat dich zu mir geführt.»
Eine Stimme, eine Stimme, es muss jemand hier sein, warum ist die Stimme schwarz, Stimmen sind nicht schwarz, sie sind gar nicht farbig, Josie, nicht schwarz und nicht weiß, aber diese ist schwarz.
Mein Schädel dröhnt, es pocht, und immer wieder schießen schmerzhafte Blitze, deren Bahnen ich verfolgen kann, durch mein Gehirn.
«Erkenne dich selbst. Ternet nosce.»
Erkenne dich selbst, Josie.
Die Blitze sind gleichzeitig schnell und langsam. Es sind Pistolenkugeln in meinem Kopf, ich kann sie erkennen. Das Referat wird der Hammer. Damit schaffst du es.
Warum kann ich meine Augen nicht öffnen. Ich will sehen, alles sehen. Wenn ich sie öffne, verschwinden die Blitze, aber es geht nicht.
Felix.
Ich spüre ihn, seine Hände, an meinem Körper. Du bist da, wie gut, dass du da bist, ich kann meine Augen nicht öffnen, aber ich muss sie öffnen, erkenne dich selbst, Felix, du hast es selbst gesagt, erkenne dich selbst, warum muss ich das? Es ist so lange her, dass du mich geküsst hast. Mein Mund, meine Brust. Deine Lippen suchen den Weg zu mir. Mein Hals. Deine Hände in meinen Haaren. Langsam. Felix. Deine Zunge in meinem Nabel. Willst du wirklich? Ja, ja, ja.
«Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus, du glaubst, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du am Leben. Bedenke, alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit.»
Es tut weh, und es ist schön. Limonen. Ich rieche Limonen. Sie fühlen sich gut an. Ich spüre dich in mir. Hör nicht auf. Mein Kopf. Es tut so weh.
31
Stella van Wahden betrat den großen Konferenzraum im Polizeipräsidium. Alle bis auf Miki Saito warteten bereits.
Muthaus schabte mit einem Zahnstocher die schwarzen Ränder unter den Nägeln der linken Hand weg. Wenn er einen fertig hatte, streifte er das Hölzchen am Hosenbein ab und begann mit dem nächsten; er störte sich nicht an den missbilligenden Blicken des leitenden Kriminaldirektors. Wie immer saß Winterstein geschniegelt und gestriegelt und kerzengerade am oberen Ende des wuchtigen Besprechungstisches.
Wie man nach einem Zwölfstundentag noch so aussehen kann, fragte Stella sich. Sie fühlte sich wie durch den Fleischwolf gedreht, was allerdings auch daran lag, dass im Moment fast jeder Arbeitstag eher achtzehn oder mehr Stunden hatte. Zum Schlafen kam eigentlich niemand mehr.
Es machte einen Unterschied, ob man hinter dem Mörder von zwei Mädchen herhinkte oder versuchte, das Leben eines dritten zu retten. Im ersten Fall ging Stella abends ins Bett und holte sich, was sie brauchte, egal, ob die Nacht ihr drei, vier oder zehn Stunden schenkte. Seit dem Verschwinden von Josie und Sarah war es Essig damit.
«Es tut mir leid, dass ich Sie zu dieser Zeit noch hierherbitten musste», begrüßte Stella die Runde. Eine Platitude, sie wusste es.
Rechts von Winterstein reihten sich die Beamten aus dessen Haus auf, Vertreter der kriminaltechnischen Abteilung, zwei Kommissare, die er abgestellt hatte, die Pressesprecherin und Annika Borden. Mittlerweile arbeiteten fast vierzig Leute an dem Fall, zu dieser Sitzung hatte Stella allerdings nur den engeren Zirkel geladen. Es waren Ermittlungsdetails an die Presse durchgesickert; Stella hielt deshalb den Kreis der Eingeweihten zunächst klein.
Auf der anderen Seite des Tischs beschäftigten sich die IT -Spezialisten Kluschke und Pettersson verbissen mit ihren Smartphones, was auf ein höheres Level in einem illegalen Computerspiel hinwies. Petra Kronen hockte in all ihrer Unscheinbarkeit daneben und kritzelte gedankenverloren auf einem Fetzen Papier herum. Normalerweise wurde sie übersehen oder für die Abteilungssekretärin gehalten, ein Fehler, wie sich bei verschiedenen Einsätzen gezeigt hatte.
Endlich traf auch Saito ein. «Tut mir leid», entschuldigte er sich. Er stellte eine Sporttasche und sein Laptop auf den Tisch und flitzte sofort wieder raus.
Zehn Sekunden später schob er die Tür erneut auf und zog einen Geschirrwagen, wie sie in der Kantine herumstanden, hinter sich her; Platten mit belegten Brötchen, ein Jumboglas saurer Gurken, eine Handvoll Schokoriegel, ein paar Frikadellen mit Senf, Käsekräcker und eine Auswahl an Softdrinks standen
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