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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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voller Kraft daran zog. Mir war aber noch immer übel, und der Durst brachte mich fast um den Verstand.
    Als zum ersten Mal Licht in den Raum fiel, konnte ich die Augen nicht offen halten. Sie hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt.
    Der Schein, der durch einen Spalt fiel, verbreiterte sich, und bevor ich den Kopf in der Armbeuge verbarg, erhaschte ich einen Blick auf eine Gestalt im Gegenlicht. Das Bild hing noch eine Weile nach. Ich rührte mich nicht, obwohl ich mir diese Situation wieder und wieder vorgestellt hatte, während ich in der Schwärze des Zimmers ausgeharrt hatte.
    Aufspringen, die Überraschung nutzen, ihn angreifen.
    Jetzt saß ich einfach da und hielt mir die Augen zu wie ein dummes kleines Mädchen, das glaubt, die Gespenster so vertreiben zu können. Wenn ich dich nicht sehe, kannst du mich auch nicht sehen, ätsch!
    Die Gestalt schaltete eine Lampe an, ein Ballon aus Reispapier, wie in meinem Zimmer zu Hause. Die Birne darin musste jedoch viel schwächer sein, denn sie warf nur einen schwachen Schein in den Raum. Den Schalter hatte ich auch bereits entdeckt, aber er hatte nicht funktioniert. Er steuerte alles von außen.
    Der Mann war hochgewachsen, hatte eine sportliche Figur. Seine Haare waren höchstens ein paar Millimeter lang, rundherum gleichmäßig. Die Stoppeln waren blond, es wirkte fast wie eine Glatze. Seine hohen Wangenknochen und die Augen wurden dadurch hervorgehoben, aber ich konnte die Farbe nicht erkennen, hell auf jeden Fall, keine dunklen Augen.
    «Josie, ich bin so froh, dass du endlich da bist», sagte er und stellte ein Tablett auf das Tischchen neben dem Bett. Er schob dabei vorsichtig den Wecker mit dem Vogel darauf zur Seite. Meine Uhr. Die rote Zeitangabe blinkte jetzt hektisch, weil die Uhr vom Netz getrennt gewesen war und neu gestellt werden musste. «Ich habe mir erlaubt, sie mitzunehmen und noch ein paar mehr von deinen persönlichen Sachen. Alles konnten wir nicht einpacken, es war nicht so viel Platz im Wagen.»
    Wer war wir? Hatte ihm jemand geholfen? Hatte er Komplizen? Vielleicht sprach er auch nur von sich selbst und mir. Ich wollte nichts mitnehmen, er hatte mich nicht gefragt, und ich hätte nein gesagt. Wir. Wir. Ich. Ich und du. Ich gegen dich, das wurde mir in diesem Moment bewusst.
    «Ich habe dir etwas zu essen gemacht, du bist sicher hungrig wie ein Wolf, nicht wahr?» Er lachte. «Eine Wölfin», verbesserte er sich.
    Mich widerte der fürsorgliche Ton in seiner Stimme an. Du redest kein Wort mit ihm, ging es mir plötzlich durch den Kopf. Es war mehr ein Gefühl als ein durchdachter Plan, aber mich ihm auf diese Weise zu verweigern, war im Moment die einzige Möglichkeit, eine Grenze zu ziehen. Er konnte mich aus dem Haus meiner Eltern schleppen, mich irgendwohin verfrachten, aber er konnte mich nicht zwingen, ihm irgendeine Form von Beachtung zu schenken.
    Geschenkt würde er nichts von mir bekommen, das stand in diesem Augenblick fest.
    «Bedien dich», forderte er mich auf.
    Auf dem Tablett stand ein Teller mit geschmierten Broten, Käse, eine Tomatenscheibe auf einer Hälfte, eine aufgeschnittene Gewürzgurke auf der anderen, ein Schälchen mit Obstsalat, ein Teeglas mit heißem Wasser. Er riss das Papier von einem Teebeutel und hängte ihn ins Wasser, das sich langsam in kleinen Wolken rot färbte. Hagebutte. Ich musste an das Abendbrot im Altenheim denken. Daneben lag eine Plastikflasche mit stillem Wasser.
    Ich griff danach.
    «Ja, ja, nimm nur», sagte er. «Danach wollen wir ein bisschen reden.»
    Ich setzte die Flasche an den Mund und trank mit gierigen Schlucken. Das Wasser war lauwarm, aber ich konnte mich kaum an etwas erinnern, das ich jemals mit solchem Genuss in mich hineingeschüttet hatte.
    Er stand währenddessen auf, zückte einen Schlüsselbund und öffnete den Kleiderschrank. Sauber aufgestapelt lagen dort meine T-Shirts, ein paar Pullover, Hosen, Unterwäsche und ein bisschen Krimskrams aus meinem Zimmer. Er öffnete den Schreibtisch. Meine Schulbücher kamen zum Vorschein.
    «Mit der Zeit werden wir das alles ergänzen, keine Sorge», sagte er.

40
    Stella ging den Sonnleitners ein paar Schritte entgegen, nachdem ein Reisebus das Ehepaar an der Straße abgesetzt hatte. Horst Sonnleitner nahm sich nicht die Zeit, seinen Koffer aus dem dafür vorgesehenen Stauraum unten im Bus zu holen. Ein anderer Wallfahrer brachte das Gepäck zum Haus.
    In der Küche der Sonnleitners roch es streng nach vergorenem Kartoffelsalat, der

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