Unsichtbare Blicke
mehr sehen würde.
Er atmete ein paarmal durch. Er spürte den Schweiß, der ihm den Rücken hinablief, genau auf der Wirbelsäule, ein brennendes Rinnsal. Er drehte sich um. Da stand sie. Der Anblick brannte sich sofort auf seiner Netzhaut ein; wenn er jetzt stürbe, fände man ihr Bild dort.
Ihre Haare waren immer noch so lockig und dick, tiefrot jetzt, fast schon braun, nachgedunkelt oder nachgeholfen? Sie quollen hinten aus einem Pferdeschwanz heraus, festgezurrt, streng. Das dunkelblaue Kostüm saß perfekt. Um ihren Hals baumelten die typischen in Plastik geschweißten Ausweise, die auf Messen und Kongressen den Unterschied machten, dazugehören oder nicht dazugehören, es waren drei oder sogar vier, Tridentis Pharmaceutical stand auf jedem der Schilder, ihren Namen konnte er auf die Entfernung nicht erkennen, aber er wusste ihn, den Vornamen zumindest, er kannte den Namen, und er hatte ihn noch lange Zeit ausgesprochen, laut, abends, wenn er es sich selbst gemacht hatte, bis er gekommen war, dann hatte er den Namen gezischt und verflucht.
Er hörte hinter sich, wie sie sich bei zwei geschniegelten Lackaffen, die lauthals eine Runde Champagner bestellt hatten, entschuldigte und den Barmann nach der Toilette fragte.
Die Abschlüsse waren hervorragend gewesen, sie hatten die Typen am Haken oder so etwas faselten die Kerle und ließen sich dann über die Frau aus, sobald diese aus Hörweite war.
«Mann, die zieht Nägel mit den Schamlippen aus dem Parkett», sagte der eine mit einer Mischung von Bewunderung und Angst in der Stimme. Er zog ein Herrentaschentuch aus der Hosentasche, um sich über die verschwitzten Wangen und die Oberlippe zu wischen. Dem fetten Kerl quoll eine ordentliche Wampe über den Gürtel.
«Und dich rammt sie ungespitzt in den Estrich, wenn du ihr querkommst», erwiderte sein Kumpel, der die perfekt sitzende Krawatte jetzt lockerte. «Mit solchen Sprüchen solltest du vorsichtig sein. Erst recht, wo sie jetzt den Auftrag an Land gezogen hat.»
«Ey, daran hatten unsere Analysen mindestens so viel Anteil wie Frau Doktors Marketinggeschwätz!»
«Ich sag’s dir: Sie sitzt spätestens nächstes Jahr im Vorstand und nicht du. Ich kenn sie seit über fünfzehn Jahren. Ich war mit ihr in Harvard. Von ihr lernen heißt siegen lernen, das war schon damals so.»
«Na, hat bei dir ja nicht so viel gebracht», frotzelte der Fette.
Als ihre Kollegin von der Toilette zurückkam, schwenkten die Männer ohne Übergang zurück zur Lobhudelei über sie, über sich, über ihren grandiosen Auftritt. Die Champagnergläser klirrten, als sie anstießen.
«Fahren Sie heute wieder zurück», fragte der Schwergewichtige, «oder sollen wir uns noch ein bisschen in der Stadt amüsieren?»
«Ich habe keine Zeit, um hier Fett anzusetzen», servierte die Frau ihn ab. «Und ich verstehe unter Amüsement sicher etwas anderes als Sie.»
Das konnte sie, andere abservieren, dachte er. Die Visitenkarte des Slowenen kreiselte in seinen Fingern. Er beobachtete, wie sie ihr Champagnerglas mit einem Schluck leerte, ihren Rock glattstrich und den Rollkoffer aus Aluminium am ausgefahrenen Griff fasste. Von ihrem ehemaligen Kommilitonen verabschiedete sie sich mit einem Wangenkuss, wobei sie blitzschnell die Zunge für einen Augenblick an dessen Ohrläppchen spielen ließ und ihm ein Zwinkern zuwarf, ohne dass der Dicke es mitbekommen konnte.
Sie hatte schon zweimal seinen Blick aufgefangen, aber nicht reagiert. Als sie die Bar verließ, verharrte sie noch einmal an der Drehtür, die ins Foyer führte, schaute wieder, ging dann aber.
«Schreiben Sie es auf mein Zimmer», sagte er.
«Den Tee für den Herrn auch?», fragte der Barmann.
Scheiße, nein, was hab ich mit dem zu tun, dachte er. Dann nickte er. «Meinetwegen.»
Er folgte der Frau in die Tiefgarage.
41
Stella betrat die Polizeiwache, die nur aus einem nicht allzu großen Raum bestand. Ein offener Tresen unterteilte sie in zwei Bereiche. Ein Schwall verbrauchter Luft schlug ihr entgegen.
Polizeiobermeister Wölke drehte in einem Bürostuhl mit nervender Gleichmäßigkeit von links nach rechts und zurück; ihn schien das Quietschen des altersschwachen Möbels nicht zu stören. Er grüßte Stella mit einem Tippen an die Stirn.
Miki Saito telefonierte an einem der Schreibtische auf der anderen Seite der Barriere auf der Festnetzleitung der Wache. «Ich brauche die Aufnahmen, schick sie an meinen privaten Account … was?» Die Ungeduld in seiner Stimme
Weitere Kostenlose Bücher