Unsichtbare Blicke
in einer offenen Plastikdose auf der Spüle stand. Auf dem Boden lagen Scherben einer Kaffeetasse, die Elke Sonnleitner aufsammeln wollte. Stella hinderte sie daran und bat darum, zunächst möglichst wenig zu berühren oder zu verändern.
Die Blicke der Eltern besagten, dass sie verstanden, was das bedeutete. Nachdem Stella sie mit den wichtigsten Informationen versorgt hatte, legte sie ein paar der harmloseren Fotos von Josie und Felix auf den Tisch. «Kennen Sie diese Bilder?»
Die Mutter saß auf der äußersten Kante einer Eckbank und knetete die Fingergelenke ihrer rechten Hand. Beim Anblick des schmusenden Paares auf dem Bild huschte ein zärtliches Lächeln über ihr Gesicht, aber sie schwieg, stand auf und füllte stattdessen Wasser in einen Kocher.
Ihr Mann stand am Fenster und sagte völlig unvermittelt: «Manchmal sieht man da draußen Eisvögel. Die Männchen müssen am Tag hundert oder mehr Fische fangen, um ihre Brut zu ernähren … Wahnsinn.» Er drehte sich um und nahm ein Foto vom Tisch. «Josie denkt, wir wissen nichts von dem Jungen.»
Es ging Stella eigentlich weniger um Felix Diuso als um die Herkunft der Abzüge. «Aber Sie wussten davon?»
Horst Sonnleitner seufzte. «Natürlich. Sie war in der letzten Zeit völlig aus dem Häuschen.»
«Hatten Sie etwas dagegen?»
«Josie ist fast volljährig.»
«Das beantwortet meine Frage nicht.»
«Wir konnten nicht so gut miteinander reden.»
«Hatten Sie etwas gegen diese Beziehung?»
«Meine Frau und ich leben nach Grundsätzen, die nicht immer in diese Zeit passen.»
Bevor Stella ein weiteres Mal nachhaken konnte, hüstelte Elke Sonnleitner: «Nein, ich hatte nichts dagegen, aber ich habe mir gewünscht, dass sie uns den Jungen vorstellt.»
Sie brachte den Satz mit einem Nachdruck hervor, der ihre Position scharf von der ihres Mannes abgrenzte. Ich hatte nichts dagegen. Ich habe mir gewünscht.
«Offiziell wussten wir gar nichts von ihm.»
«Josie hat es Ihnen verschwiegen?»
Elke Sonnleitner bestätigte das, obwohl ihr Mann sie mit einem kalten Blick fixierte.
«Woher wussten Sie es dann?» Stella verschluckte den Rest der Frage, die darauf gezielt hätte, ob sie in Josies Sachen geschnüffelt hatten.
«Das ist ein kleiner Ort, da bleibt wenig verborgen», knurrte Horst Sonnleitner.
«Es wäre für Sie und für mich erheblich leichter, wenn Sie meinen Fragen nicht ständig auswichen.»
Die Schonzeit war vorbei. Stella hatte den Punkt erreicht, an dem sie ihrem Gegenüber klarmachen würde, dass im Moment fast jeder im Umfeld der Mädchen Zeuge, genauso gut aber auch Verdächtiger sein konnte.
«Noch mal zu den Fotos. Haben Sie diese Abzüge schon einmal gesehen, vielleicht in der Hand gehalten?»
Sonnleitner schüttelte den Kopf. «Glauben Sie, ich wühle in Josies Sachen herum?»
«Sie sind mit der Post gekommen.» Stella zeigte ihm den braunen Umschlag.
Sonnleitner nickte. «Kurz bevor wir zur Wallfahrt aufgebrochen sind. Die Briefmarke hat gerochen, nach Blumen oder Früchten, ich weiß es nicht mehr genau. Ich habe mich gefragt, was Josie dazu sagt. Sie ist mit Gerüchen schwierig.»
«Was heißt schwierig?»
«Sie leidet unter Synästhesie, sie fühlt Gerüche», sagte Elke Sonnleitner.
«Verstehe. Sie sagen leidet … Bereitet das Probleme?»
«Es ist verwirrend. Manche Gerüche tun ihr weh.»
Stella erinnerte sich daran, dass sie eine Reportage über eine Künstlerin gesehen hatte, die die Wochentage farbig und in räumlichen Anordnungen sah. Ihre eigene Einbildungskraft hatte nicht dazu ausgereicht, dieses Phänomen zu begreifen, geschweige denn, sich den Montag und den Dienstag als eine Ellipse vorzustellen. Allerdings war ihr hängengeblieben, dass diese Sinnesverwirrungen in über der Hälfte der Fälle mehrmals in einer Familie vorkamen.
«Hat Josie das von einem von Ihnen beiden geerbt?», fragte sie.
Sonnleitner schüttelte den Kopf.
«Es ist in Ihrer Familie noch nicht vorgekommen?», hakte Stella nach.
«Nein. Und wenn! Würde das helfen, Josie zurückzubringen?»
«Nein, aber vielleicht würde es helfen, wenn Sie kein Katz-und-Maus-Spiel mit mir trieben. Josie ist Ihre Adoptivtochter, das Vorkommen von Synästhesie in Ihrer Familie, Herr Sonnleitner, oder der Ihrigen, Frau Sonnleitner, ist also völlig uninteressant. Oder soll ich lieber Herr und Frau Welz sagen?»
Die Stille in der Küche wurde nur von den lautstarken Bemühungen des Wasserkochers durchbrochen, der sich dem Siedepunkt
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