Unsichtbare Blicke
ihren Sohn. Einerseits wollte sie die grausigen Tatsachen ihres Berufs von ihm fernhalten, andererseits störte sie der schnodderige Ton.
«Eins der Mädchen ist aufgetaucht.»
«Welche von den beiden?» Morten zeigte auf die aktuelle Ausgabe der Bild-Zeitung.
Sie zog das Blatt zu sich rüber. Sarah und Josie lachten sie von der Titelseite an. Es war das Foto von der Klassenfahrt nach Berlin. Wie zum Teufel waren sie daran gekommen? Darunter die üblichen reißerischen Schlagzeilen:
In den Händen des Killers!
Nicht mal ein Fragezeichen hatten sie hinter die fünf Worte gesetzt; es war auch nicht nötig. Nach Tagen ohne jedes Lebenszeichen war nichts anderes zu erwarten. Ausrufezeichen. In den Händen des Killers.
An die Öffentlichkeit zu gehen, war unumgänglich geworden. Die ganze Zeit hatten sie es geschafft, die Medien aus dem Spiel zu halten. Die weit voneinander entfernten Fundorte der bisherigen Opfer, die Gemeinsamkeiten, die nur mit der Kenntnis von Ermittlungsinterna zu erkennen waren, alles das hatte ihnen in dieser Hinsicht in die Hände gespielt. Gelegentlich war die Presse hilfreich bei Ermittlungen, meistens erzeugte sie nur Verwirrung oder heizte den Täter an. Serienkiller liebten die Öffentlichkeit und sorgten meistens irgendwann selbst dafür, dass sie ihre Schlagzeilen bekamen.
«Warum hat er sich zwei geholt?»
Wieder zuckte Stella zusammen. Zwei geholt. Das hörte sich an, als habe er nur in einen Supermarkt gehen müssen. Zweimal Teenager, gut abgehangen, bitte.
«Wrong time, wrong place. Zumindest bei dem Mädchen, das wir in Rotterdam gefunden haben. Sein Ziel war die andere. Josie.»
«Schöner Name», sagte Morten.
Beider Teller war leer. Morten leckte seinen mit weit herausgestreckter Zunge ab. Das hatte er schon als kleiner Junge getan. Stella lächelte.
«Stimmen die Sachen über dich?», fragte ihr Sohn. «Da drin?» Er tippte auf die Zeitung.
«Sie stellen es dar, als habe ich meine eigene Kollegin verraten und ausgebootet, weil ich auf den Job heiß war, aber das stimmt nicht. Anka war in erster Linie meine Freundin. Sie war in einen unappetitlichen Fall verwickelt. Mit minderjährigen Callboys rumzumachen, ist an sich schon kein Kavaliersdelikt für eine Polizistin, die …»
«Mama, das meine ich nicht.» Er zögerte, schlug die Zeitung auf und tippte wieder darauf. Dann begann er, mit dem Kaffeepulver zu hantieren.
Stella wusste nicht sofort, was er meinte. Sie schaute sich den Aufmacher im Innenteil des Boulevardblattes an und sah sich selbst an der Hand von James und Maria van Wahden.
Alle drei waren herausgeputzt, es musste auf einem ihrer Sonntagsausflüge geschossen worden sein, sie hatte das Kleidchen nur sonntags getragen. Für Unwissende vergnügte sich eine glückliche kleine Familie, aber Stella konnte den harten Zug um die Lippen ihrer Mutter besser deuten; selbst wenn sie lachte, war es zu sehen. Genau wie der traurige Schleier in den Augen des Vaters auf dem Foto.
Sie hatte Morten nie die Wahrheit über den Tod seines Großvaters erzählt. Er hatte nie gefragt, sich damit zufriedengegeben, dass sie in der alten Villa lebten, die Stella geerbt und schon vor Jahren in einzelne Wohnungen unterteilt hatte. Sie war mit Kramer und Morten in den dritten Stock gezogen. Obwohl es in diesem Haus passiert war, hatte sie es nicht geschafft wegzuziehen.
«Ja», sagte sie nun knapp. «Er konnte nicht mehr. Hatte die Bank verloren, dann die Krankheit, es war zu viel.»
«Findest du nicht, dass ich ein Recht darauf gehabt hätte, es zu wissen.»
«Was bringen solche … Geschichten?»
«Mama, das ist keine Geschichte. Mein Opa hat sich aufgehängt, und ich soll es nicht wissen? Wir sind eine Familie. Eine ziemlich kleine. Wenn man schon seinen Vater nicht kennt …»
«Du weißt, warum du deinen Vater nicht kennst. Darüber haben wir geredet. Es ist nicht so, dass ich dir etwas verheimlichen wollte. Irgendwann hätten wir auch über Papa gesprochen.»
«Siehst du ihm ähnlich?»
Stella schüttelte den Kopf. «Und ich bin ihm auch nicht ähnlich.»
«Und ich?»
«Du hast seinen Mund.» Sie schob die Unterlippe übertrieben weit nach vorne, bis sie wie eine kleine Laderampe hervorragte. «Weischt du nuch, wie dur Frusör … früher immer gesagt hat, du sollst mal wie der Opa machen? Du hast die van Wahden’sche Unterlippe.»
Morten lachte. Er trank seinen Kaffee aus. «Wir gehen heute ins Underground, kommste mit?»
«Ich?»
Die Vorstellung, mit ihrem
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