Unsichtbare Kräfte
immer wieder las sie seine Zeilen, die ihr so viel Liebes, Gutes sagten. Sie ahnte nicht, daß vor ihr schon andere, neugierige Augen den Brief gelesen hatten. Die Korrespondenz Oswald Winterloos stand seit einiger Zeit unter scharfer Geheimzensur. —
In den nächsten Tagen wurde bekannt, daß die brasilianische Regierung umfassende Maßnahmen getroffen habe, um Wildrake weitere Überraschungsstreiche unmöglich zu machen.
Trotz alledem erwartete die Welt, von neuen Taten des tollkühnen »Captain« zu hören. Doch die Zeit verstrich, ohne daß sich etwas ereignete. Die brasilianischen Zeitungen triumphierten. Offenbar zog es der feige Räuber vor, sich angesichts der weitgehenden Schutzmaßnahmen irgendwo zu verkriechen.
*
Schon seit zwei Tagen fuhr die »Venezuela libre« durch die Fluten des Atlantischen Ozeans.
»Wenn ich denke, Droste, wieviel schöne Gelegenheiten wir vorübergehen ließen auf unserer letzten Fahrt! Doch Sie haben ja recht: Die Überraschung wird für uns eine Hauptwaffe sein! Eine Serie von versenkten brasilianischen Schiffen hätte unseren Weg nur allzu deutlich gemacht.«
»Was da im nördlichen Atlantik in den letzten Tagen geschah, wagte man natürlich nicht auf unsere Rechnung zu bringen. Die Besatzungen der geplünderten Schiffe sagen übereinstimmend aus, daß ein Schoner in Verbindung mit einem Flugzeug sie ausgeraubt hat. Man scheint in Brasilien Jean Renard in Verdacht zu haben.«
»Ich glaube es selbst, der alte Sünder scheint doch das Glück gehabt zu haben, sein Fahrzeug wiederzufinden.«
»Wir werden bei Gelegenheit mal Renards Insel untersuchen müssen.
Liegt auch Santa Maria weit davon ab, so wäre es doch nicht ausgeschlossen, daß uns Renard eines Tages schlimmen Besuch auf den Hals zöge.«
*
»Sie sind’s!« Barradas schrie’s mit seiner Donnerstimme. »Wildrake und Droste kommen! Hurra!«
Alles eilte zu der Anhöhe, auf der Barradas stand. Maria, auf Pablos Arm gestützt, lauschte den Worten der Männer.
Inzwischen war die »Venezuela libre« so nahe an die Insel herangekommen, daß die Bäume jede Aussicht verdeckten.
»Sicherlich werden sie bei der >Susanna< in der Mangrovenbucht festmachen!« rief Alvarez. »Eilen wir dorthin!«
Es dauerte eine Weile, ehe sie den Weg durch das sumpfige Gebiet hinter sich brachten. Als sie endlich die »Susanna« zu Gesicht bekamen, bog der Rumpf des U-Bootes gerade in die Buchtmündung ein.
Und dann lag die »Venezuela libre« sicher an den gewaltigen Mangrovenwurzeln vertäut. Wieviel gab’s zu erzählen! Wieviel war zu sehen! Während die Inselleute das U-Boot in allen seinen Teilen durchforschten, standen Droste und Wildrake, der Maria am Arm führte, in der Turbinenanlage.
Die beiden konnten sich nicht der Rührung erwehren, als jetzt Maria Anunziata ihnen mit freudiger Stimme die Anlage in all ihren Teilen erklärte.
Der Rest des Tages war unter Plaudern und Beschauen vergangen. Wildrake und Droste schienen dringend der Ruhe bedürftig. Alle weiteren Montagearbeiten wurden auf den morgigen Tag verschoben. Auch mußten die eingegangenen Briefe gelesen werden.
Alvarez und Calleja hatten die Post aus Tabago mitgebracht. Wildrake las Maria die Briefe Ednas und des Oheims vor. Droste hatte sich in den Sand gelegt und studierte einen Brief Arvelins.
Das Testament war immer noch nicht gefunden! Immer wieder klang aus den Zeilen des Doktors Betrübnis über das Verschwinden des Dokumentes. Unklar schien Droste die undeutlich am Schluß hingeworfene Bemerkung, daß der Schreiber vielleicht genötigt sei, demnächst eine lange Reise anzutreten. Droste sann: Wahrscheinlich hing diese Absicht mit dem Testament zusammen?
Es war der dritte Tag, daß Wildrake und Droste auf Santa Maria weilten. Die »Venezuela libre« hatte man aus der Bucht heraus weiter ins Meer gezogen. Doch war das noch das U- Boot, das Wildrake und Droste hierhergebracht?
Zwei Riesenflügel waren auf dem Deck des Schiffes montiert. Ein U-Boot mit Flügeln? Wo sollten die Maschinen, wo der Treibstoff herkommen, die solche Last weithin durch die Lüfte trugen?
Für morgen waren die Probeflüge anberaumt. Würden sie gelingen? Alles hing davon ab.
Kaum graute der Morgen, sprangen alle auf.
Eine Stunde war vergangen. Die Tanks des U-Bootes waren mit dem Treibstoff gefüllt. Alle außer Maria und Pablo gingen an Bord. Langsam schob sich der graue Rumpf ins freie Meer. Wildrake stand im Kommandoturm, Droste in der Zentrale, die anderen auf dem Rücken
Weitere Kostenlose Bücher