Unsichtbare Kräfte
als ob sie seine Worte nicht hörte, las weiter.
»Ich begreife deine Gelassenheit nicht, Adeline!«
Erschöpft ließ er sich in einen Stuhl sinken. Adeline schaute mit spöttischem Lächeln auf. »Du verstehst meine Ruhe nicht, Franz? Und ich deine Angst ebensowenig. Nachdem wir gehört, daß Doktor Arvelin beim Nachlaßgericht vergeblich um Verlängerung der Frist gebeten hat, war ich vollkommen sicher, daß er das Testament des Oheims nicht gefunden hat und auch niemals finden wird.«
Franz wollte antworten, da schlug die Uhr Mitternacht. Mit einem Jubelruf sprang er auf. »Gott sei Dank, die Frist ist um! Das Testament nicht gefunden! Wir sind die Herren von Winterloo!«
Er wollte seine Schwester umarmen, doch die wehrte ab. »Wozu die Aufregung, Franz?«
Der schüttelte den Kopf. »Adeline! Wie kannst du so gleichgültig tun? Eine Flasche Sekt her! Wenn ich jemals eine mit Genuß getrunken, so soll’s diese sein!«
»Vergiß nicht, lieber Franz, daß die Siegel des Gerichtsvollziehers am Weinschrank kleben.«
»Pah! Gerichtsvollzieher! Du wirst sehen, wie die Herren Gläubiger winselnd und kriechend zu dem Besitzer von Winterloo kommen, ihm jeden Kredit anbieten werden.«
Er eilte hinaus, kam mit einem Armvoll Flaschen zurück.
Dann schenkte er sich ein Glas Sekt ein, stürzte es hinunter, drückte dann auf einen Klingelknopf. Morawsky, der sich den Schlaf aus den Augen rieb, trat ein.
»Um fünf Uhr den Wagen bereithalten! Wir fahren nach Winterloo. Daß du pünktlich zur Stelle bist!«
Die Fenster des Schlosses strahlten in hellem Lichterschein. In dem weiten Speisesaal war ein großes Fest im Gange. An einer langen, geschmückten Tafel saßen die Gäste.
Der neue Schloßherr feierte nachträglich seinen Einzug in Winterloo. In den wenigen Wochen, die seit jenem Abend in Dobra vergangen waren, hatte sich vieles geändert.
Als Franz und Adeline damals am frühen Morgen in Winterloo ankamen, hatten sie sich vergeblich nach Doktor Arvelin umgeschaut. Franz, der unterwegs hämisch erklärte, er würde den alten Schleicher sofort an die Luft setzen, war anscheinend wütend, daß ihm Arvelin diesen Strich durch die Rechnung gemacht. Innerlich freilich war er froh, daß ihm keine Gelegenheit geboten ward, seine Drohung wahrzumachen. Denn sein geheimer Respekt vor Arvelin hatte sich infolge der Ereignisse der letzten Monate bis zu ängstlicher Furcht gesteigert. Einen großen Teil der Dienerschaft aber entließ er sofort. Morawsky wurde an die Stelle des alten Friedrich gesetzt.
Dieses Fest nun sollte den Anfang einer neuen Zeit bedeuten. Mit unverhohlenem Stolz hatten die Geschwister die schmeichlerischen Glückwünsche der Gäste entgegengenommen. Doch noch ein anderer Zweck war mit dem heutigen Abend verbunden: Adelines Verlobung mit dem Grafen Gajewsky sollte bekanntgegeben werden.
Was allen Künsten der koketten Intrigantin bisher nicht gelungen war, das hatte der goldene Hintergrund von Schloß Winterloo endlich vermocht: Eine ganze Reihe ernsthafter Freier bemühte sich plötzlich um ihre Hand. Und es war wohl nur der Grafentitel, der den Hauptmann Gajewsky die anderen Bewerber aus dem Felde schlagen ließ.
Die Feststimmung näherte sich ihrem Höhepunkt. Adeline gab dem Bruder einen mahnenden Wink. Der erhob sich, ein wenig schwankend, tat dann mit schwerer Zunge die frohe Nachricht kund.
Im Nu war der ganze Saal erfüllt von Jubeln, Schreien, Hochrufen. Alles umdrängte das Brautpaar. Gläser klirrten. Franz stieß so heftig mit dem seinen gegen das seiner Schwester, daß dieses in Scherben brach.
Sie erschrak. Ein böses Omen? Doch schnell hatte sie sich gefaßt. Hastig drehte sie sich um, griff über sich zu einem Bordbrett, wo silberne und irdene Trinkhumpen standen. Dazwischen ein goldglänzender Becher. Es war die Monstranz aus dem Mausoleum, die auf Adelines Anordnung hierhergebracht war.
Mit einem übermütigen Ruf ergriff sie das heilige Gerät, hielt es dem einschenkenden Diener entgegen. Der goß es voll roten Weines.
Franz sprang vor, wollte ihr die Monstranz aus der Hand reißen. »Adeline! Um Gottes willen! Ich bitte dich, nicht dieses!«
Doch sie wandte sich lachend um, hob das Gefäß ihrem Verlobten zu, wollte es an die Lippen führen - da ...
Ein Schreckensruf. Ihr Antlitz totenbleich. Die Augen in wirrem Entsetzen weit aufgerissen, stierte sie mit bebenden Lippen um sich.
»Doktor Arvelin! Er ist hier! Was will er?«
Lastende Stille. Betroffen starrten alle auf
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