Unsichtbare Spuren
dem Essen schloss er sein Handy an das Ladegerät an und begab sich unter die Dusche. Er wusch sich die Haare und rasierte sich und fühlte sich für einen Moment etwas besser. Auf dem Balkon rauchte er eine weitere Zigarette, der einzige Luxus, den er sich erlaubte, auch wenn er ihn sich eigentlich nicht leisten konnte. Er versuchte die beiden Telefonate mit seiner Ex zu verdrängen, was ihm jedoch nicht gelang. Immer waren es neue Nadelstiche, die sie ihm versetzte. Ich bin nur der Zahlemann, dachte er, immer nur zahlen, zahlen, zahlen! Vor fünf Jahren, kurz bevor der Mord an Sabine Körner geschah, hatten sie einen größeren Kredit für neue Möbel und ein paar Elektrogeräte aufgenommen, den Vertrag hatte nur er unterschrieben. Die Laufzeit betrug zweiundsiebzig Monate, die Höhe des Kredits dreißigtausend Mark. Damals brauchte er keinen Bürgen, er war glücklich verheiratet, als Beamter unkündbar und hatte ein regelmäßiges Einkommen. Nicht übermäßig viel, doch genug, um eine vierköpfige Familie zu ernähren. Und dann kam die alles verändernde Krise, die Trennung von der Familie und ein Leben, das er sich in seinen schlimmsten Alpträumen so nicht vorgestellt hatte. Und noch immer zahlte er den Kredit ab, obwohl nicht eines der damals angeschafften Möbelstücke in seiner Wohnung stand. Alles hatte sie mitgenommen, sie war gegangen, als er mal wieder bei einer Fortbildung war. Als er zurückkehrte, war die Wohnung leer, lediglich ein Zettel klebte an der Tür, lieblos dahingekritzelte Worte, die ihm das Herz brachen. Das Loch, in dem er sich damals befunden hatte, war noch tiefer geworden .
Es war ein Abgrund, in den er geblickt hatte, und für einige Tage hatte er mit dem Gedanken gespielt, seinem Leben ein Ende zu setzen. So wie Georg Nissen, der auch keinen Ausweg mehr gesehen hatte. Und er hatte lange Zeit gedacht: Das ist die gerechte Strafe, jetzt muss ich eben genauso leiden wie Nissen. Lange hatte es gedauert, bis er begriff, dass das Leben auch so weiterging, ohne Frau und ohne Kinder, auch wenn er Elisabeth und Markus oft vermisste.
Er rauchte noch eine zweite Zigarette, schaute auf die Uhr und rief bei Lisa Santos an. Er ließ es klingeln, bis die Verbindung automatisch getrennt wurde. Okay, dachte er, wir sehen uns ja morgen im Präsidium. Ist auch nicht so wichtig .
Und doch war er ein wenig enttäuscht, sie nicht erreicht zu haben. Er legte sich auf die Matratze und zog die Bettdecke bis zum Kinn. Er schlief sofort ein, obwohl es draußen noch hell war.
MONTAG, 20.45 UHR
B utcher hatte von unterwegs Carina Niehus angerufen und ihr mitgeteilt, dass es etwas später werden würde, worauf sie antwortete, das mache überhaupt nichts, das Essen sei sowieso gerade erst fertig geworden. Während der Fahrt hörte er den Polizeifunk und erfuhr dabei von drei großen Verkehrskontrollen, einer auf der B 76 zwischen Schleswig und Fleckeby, einer auf der B 201 zwischen Schuby und Schleswig kurz vor der A 7 und einer unmittelbar hinter der Ausfahrt Harrislee bei Flensburg hinter der A 7. Wen oder was sucht ihr denn? Hier oben gibt ’ s doch sonst fast nie Kontrollen .
Und er nahm eine Ausfahrt früher, denn er hatte es eilig. Den ganzen Tag schon hatte er sich auf diesen Abend gefreut. Er hatte eine besondere Flasche Wein gekauft und war mittlerweile bester Stimmung, die auch von seiner Mutter oder der unerträglichen Kaiser nicht getrübt werden konnte. Nach einer halben Stunde parkte er vor dem kleinen Haus von Carina Niehus. Aus dem Kofferraum holte er einen Strauß Blumen und die Flasche Wein, schloss ab und klingelte einmal kurz .
» Hallo «, wurde er mit einem freudigen Lächeln begrüßt, » das ist schön, dass Sie da sind. Jule ist schon seit einer Stunde im Bett. Aber kommen Sie doch rein. «
» Hier, bitte schön «, sagte Butcher und überreichte ihr die in Cellophanpapier eingewickelten Blumen .
» Oh, das wäre doch nicht nötig gewesen. Aber ganz ehrlich, woher wissen Sie, dass Lilien meine Lieblingsblumen sind? «
» Ich dachte mir, dass Sie eher das Ausgefallene mögen «, entgegnete er. Der Boden knarrte wieder so angenehm unter seinen Füßen, und wäre er ein Dichter gewesen, er hätte vielleicht beschreiben können, was in ihm vorging, wenn er dieses Geräusch des Fußbodens hörte und in sich spürte, zumindest meinte er, es zu spüren, in seinen Beinen, seinem Bauch und seinem Kopf. Als würde irgendjemand oder irgendetwas zu ihm sprechen. Aber er war
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