Unsichtbare Spuren
nein, stattdessen hatte sie ihm aus Gedichtbänden vorgelesen, Worte, die er nicht verstand, die ihn jedoch schnell einschlafen ließen. Und sie hatte ihn mit Geschenken überhäuft, zum Geburtstag oder an Weihnachten. Aber nur solche Geschenke, die auch pädagogisch wertvoll waren. Als er die Fotos sah, musste er unwillkürlich an seine Kindheit denken und was ihm alles vorenthalten worden war.
Carina hingegen schien glücklich zu sein, auch wenn sie Jule ohne Vater großziehen musste. Er stellte sich ans Fenster, das auf den kleinen Garten hinauszeigte, in dem eine Schaukel stand und mehrere Spielsachen von Jule herumlagen, etwas, das seine Weiber, wie er seine Mutter und seine Frau insgeheim nannte, nie geduldet hätten. Schon als Laura und Sophie noch sehr klein waren, hatten sie darauf bestanden, dass die Spielsachen vor dem Zubettgehen wieder dorthin gelegt wurden, wo sie hingehörten und niemanden störten. Noch während er hinausschaute, kam Carina mit dem Essen und sagte, ihn sanft auffordernd: » Kommen Sie weg vom Fenster, der Garten ist nicht sehr ansehnlich. Ich hab einfach nicht das Händchen dafür. Er ist hauptsächlich für Jule zum Spielen da, und wenn ’ s warm ist, setze ich mich auch mal auf die Terrasse. «
» Es gefällt mir, wie Sie wohnen, sehr gemütlich «, entgegnete Butcher und drehte sich um. » Auch der Garten. Ich hasse diese Vorzeigegärten, Sie wissen schon, was ich meine. «
Carina lachte auf. » Schon. Trotzdem müsste ich da draußen mal was machen, die Nachbarn gucken schon ganz blöd … «
» Nachbarn! Wen interessieren Nachbarn?! Sie sind doch nicht der Typ, der sich von der Meinung anderer abhängig macht, oder? «
» Nein, das nicht. Und irgendwann mach ich ’ s schon, wenn das Wetter schöner wird. Nehmen Sie Platz, ich hoffe, Sie mögen Rouladen mit Klößen. Ich habe sie nach dem Rezept meiner Mutter gemacht. «
» Das hab ich ewig nicht gegessen. Entweder geh ich in die Kantine oder ernähre mich von Dosenfutter «, sagte er lachend .
» Dann freut es mich umso mehr, ich hoffe nur, ich habe Ihren Geschmack getroffen. «
» Ihre Eltern leben noch in Lüneburg? «, fragte er, während er sich setzte und Carina aufzufüllen begann. Zwei Klöße, Rotkohl und eine große Roulade für ihn, auf ihren Teller gab sie nur einen Kloß, die Hälfte Rotkohl und eine halb so große Roulade.
» Nur meine Mutter, mein Vater hat es vorgezogen, sich eine Jüngere zuzulegen und wegzuziehen. Sie ist sogar jünger als ich, ich hab nur einmal ein Foto von ihr gesehen. Zum Glück hat meine Mutter auch wieder jemanden gefunden. Aber dort unten Arbeit zu kriegen ist fast unmöglich. Deshalb bin ich auch hier geblieben, denn einen solchen Dienstplan bietet mir kaum eine Klinik in Deutschland. «
» Und wo lebt Ihr Vater jetzt? «
» In Süddeutschland, dort, wo er auch seine neue Flamme kennen gelernt hat. Im Prinzip ist es mir egal, was er macht. Er will mit mir nichts mehr zu tun haben. «
» Vielleicht schämt er sich «, bemerkte Butcher .
» Mag sein. Aber lassen Sie uns lieber über etwas anderes reden. Wie war Ihr Tag? «
» Nichts Besonderes. Viele denken, bei uns müsste immer was los sein, aber wir haben die meiste Zeit nur mit Kleinigkeiten zu tun. «
» Bei welcher Polizeidienststelle sind Sie? «, fragte Carina und nahm ihm gegenüber Platz. Er schenkte etwas Wein in sein Glas, kostete, nickte und füllte die Gläser halb voll. Sie stießen an und nahmen einen Schluck.
» Eigentlich Kiel, aber … « Er wiegte den Kopf hin und her, sah Carina ernst und durchdringend an und meinte schließlich : » Okay, aber das ist eigentlich nicht für Ihre Ohren bestimmt. Sie müssen mir versprechen, es für sich zu behalten, sonst komme ich in Teufels Küche. Versprechen Sie’s mir?«
»Natürlich, aber Sie müssen nicht darüber reden, wenn es ein Geheimnis ist. Tun Sie’s nicht, wenn Sie nicht dürfen.«
»Danke. Die Sache ist wirklich sehr heikel und mit vielen Risiken behaftet. Um es klar auszudrücken, ich bin kein normale r P olizist, wenn Sie verstehen. Eine undichte Stelle, und die ganze Aktion war umsonst. «
» Sicher, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, niemandem von Ihnen zu erzählen. Aber wieso hatten Sie gestern eine Uniform an? Ich dachte immer, Undercover -P olizisten … «
» Verdeckte Ermittler nennt man das bei uns «, verbesserte Butcher sie.
» Na ja, ich dachte, verdeckte Ermittler laufen unauffällig herum. Aber ich kenn das nur aus dem
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