Unsichtbare Spuren
überging.
» So kann man es auch ausdrücken. Aber es steckt noch viel mehr dahinter. Warum wurde nie von einer dritten Person beobachtet, wie unser Täter und seine Opfer sich getroffen und weggegangen beziehungsweise weggefahren sind? Zufall? Keine Ahnung. Aber mir ist eine Begebenheit aus den sechziger Jahren in den Sinn gekommen, wo ein Mädchen bei einer Freundin zu Besuch war und normalerweise vom Vater dieser Freundin regelmäßig bei Dunkelheit nach Hause gefahren wurde. Es war nur ein Weg von wenigen Minuten. Eines Tages ist das Mädchen wieder bei seiner Freundin, doch diesmal kann sie nicht heimgefahren werden, weil der Vater krank im Bett liegt. Also verabschiedet sich da s M ädchen von der Freundin gegen zehn Uhr abends und ruft, da das Telefon ihrer Freundin kaputt ist, von einer Telefonzelle aus ihren Vater an und bittet ihn, sie abzuholen. Er sagt jedoch, dass er erst in einer halben Stunde dort sein kann, sie soll doch bitte wieder zur Freundin hochgehen .
Das Mädchen, siebzehn Jahre alt, denkt sich, okay, dann warte ich eben und verschweigt ihrem Vater, dass die Freundin auch zu Bett gehen wollte. Sie wartet und wartet, eine halbe Stunde vergeht, doch der Vater kommt nicht. Dafür in wenigen Minuten der Bus. Sie überquert die Straße, und genau in diesem Augenblick trifft sie auf ihren Mörder. Eine normalerweise stark frequentierte Straße, doch an jenem Abend ist sie wie ausgestorben. Kein Mensch weit und breit, außer diesem Mädchen und ihrem Mörder. Er fackelt nicht lange, sondern zerrt sie eine Böschung hinunter, vergeht sich auf brutalste Weise an ihr und tötet sie. Das alles geschah, während der Vater ankam, seine Tochter nicht vorfand und sich dachte, sie habe vielleicht den Bus genommen, weil es ihr zu lange dauerte. Der Mörder dieses Mädchens war ein amerikanischer Soldat, der ein knappes Jahr später in den Staaten verhaftet wurde. Auf sein Konto gehen circa zwanzig Morde, und hätte er nicht einen fatalen Fehler begangen, wer weiß, ob man ihn je gefasst hätte. Bei seiner Vernehmung hat der Täter ausgesagt, dass dem Mädchen, wäre es auf der andern Straßenseite geblieben, nichts passiert wäre. Warum also hat sie die Straße überquert? Warum hat der Vater sich verspätet? « Er räusperte sich und trank einen Schluck Wasser, bevor er fortfuhr: » Es gibt keine Antworten. «
» Doch «, sagte Henning und griff sich an das unrasierte Kinn , » es gibt Antworten, nur, wir kennen sie nicht. Es gibt eben doch Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich nicht erklären lassen. Wie eben der berühmte Zufall. «
Lisa Santos meldete sich erneut zu Wort. » Diese Diskussion ist zwar ganz schön, aber ich frag mich ernsthaft, was das bringen soll. Egal ob Zufall oder Fügung oder Schicksal, das bringt uns dem Täter nicht einen Schritt näher. Oder seid ihr da anderer Meinung? «
» Ich schon «, entgegnete Henning lapidar. » Wir müssen herausfinden, wie der Kerl an seine Opfer rankommt. Plant er seine Morde, oder geschehen sie zufällig? Wenn er sie plant, dann ist das so geschickt, dass er mit dem Zufall spielt. Oder anders ausgedrückt, er spielt Gott. Ich denke, er steht unter einem permanenten Druck, der sich in immer kürzeren Abständen entlädt. Ein Druck, den er nicht kontrollieren kann oder will. Oder ein Druck, den er einfach nicht aushält. Er fährt durch die Gegend und findet jedes Mal ein Opfer … «
» Das wissen wir doch gar nicht. Es kann doch auch sein, dass er nur hin und wieder eins findet, denn wir wissen ja nicht, wie oft er unterwegs ist «, bemerkte Harms .
» Stimmt. Trotzdem hat er erstaunlich oft Erfolg, wie wir sehen können. Mag sein, dass er auch genauso häufig frustriert wieder nach Hause fährt, weil er eben kein Opfer gefunden hat … «
Lisa Santos wollte etwas erwidern, doch Henning hob die Hand und ging auf die Karte von Norddeutschland zu, die an der Wand hing. Er betrachtete sie eine Weile, stellte sich davor und folgte mit dem Finger dem Lauf der A 1 von Hamburg an, bis er an der Raststätte Buddikate angelangt war. Er war wie elektrisiert und sagte: » Warte mal, ich glaub, ich hab ’ s. Jan, schlag mal den Fall Claudia Meister auf. Sag mir, wo man ihre Leiche gefunden hat. «
» Moment. « Friedrichsen blätterte in einem Ordner. » Hier, in der Nähe des Neversdorfer Sees. «
» Das ist an der A 21 «, sagte er nachdenklich. » Genau dort sollten wir suchen. Am Neversdorfer See. Melanie Schöffe r l iegt dort. Sie wurde
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