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Unsichtbare Spuren

Unsichtbare Spuren

Titel: Unsichtbare Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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Beispiel. Wir alle kennen das mit der heißen Herdplatte. Jeder von uns hat sich schon mal die Finger verbrannt, und wir haben unsere Lehren daraus gezogen und wissen, dass wir eine heiße Herdplatte nicht anfassen dürfen .
    Aber manche Kinder dürfen diese Erfahrungen gar nicht erst machen, weil da jemand ist, der ihnen sagt, fass das bloß nicht an, das ist gefährlich. Wie gesagt, das ist nur ein Beispiel. Aber es gehört zur Entwicklung eines jeden Kindes, sowohl negative als auch positive Erfahrungen zu machen, denn es sind Lernprozesse, die nichts mit der Schule zu tun haben, höchstens mit der Schule des Lebens. Wenn aber ständig gesag t w ird, das ist bäh, das ist schmutzig, das tut weh, ohne dass das Kind dieses Bäh, diesen Schmutz oder den Schmerz erfahren darf, wie kann es dann wissen, was schmutzig und was schmerzhaft ist? Das Einzige, was dem Kind zugefügt wird, sind seelische Schmerzen, die es jedoch nicht erkennt, weil es noch zu jung ist. Aber in sich drin baut sich der eben schon erwähnte Zorn auf, Dinge nicht erleben zu dürfen, die andere erleben. Das geschieht ganz allmählich, bis der Zorn so groß wird, dass er außer Kontrolle gerät. Und vielleicht wurde unser Täter von der Mutter derart vereinnahmt, dass ihm die Möglichkeit genommen wurde, sich zu entfalten. Ein Kind muss spielen, was auch zum Lernprozess beiträgt. Wenn dieses Kind jedoch immer allein spielen muss und ihm verboten wird, mit andern zu spielen, kommt zu dem oben genannten Problem noch ein weiteres hinzu. Ihr kennt sicherlich das Lied › Spiel nicht mit den Schmuddelkindern ‹. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass ihm das Spielen mit Gleichaltrigen verwehrt wurde. Vielleicht waren sie nicht gut genug für ihn, vielleicht hat die Mutter gesagt, diese Kinder kommen aus einem schlechten Elternhaus oder haben einen schlechten Einfluss … «
    » Darf ich kurz unterbrechen? «, fragte Henning .
    » Sicher. «
    » Aber irgendwann kommt doch dieses Kind in die Schule. Da ist es der Kontrolle der Mutter zumindest für einige Zeit entzogen. Es hat Kontakt zu andern Kindern … «
    » Aber nur in der Schule. Dort werden auch die häufigsten Freundschaften geknüpft. Wenn aber die Mutter untersagt, dass ihr Kind mit Schulkameraden außerhalb der Schulzeiten spielt, werden sich die Mitschüler zurückziehen. Was soll man mit einem anfangen, der nie raus darf? Die andern spielen Fußball und machen sich schmutzig, aber er ist nicht dabei. Er schaut vielleicht sehnsüchtig zu, aber er ist und bleibt ein Außenseiter. Das Ende vom Lied ist, dass er auch in der Schule ausgegrenzt wird. Und so entwickelt er sich zum Einzelgänger, ohne dass er es will. Er fängt an, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ich habe Straftäter kennen gelernt, denen die Kindheit auf eine ähnliche Weise geraubt wurde. Alle sozialen Kontakte wurden unterbunden, wofür es mehrere Gründe gibt. Einer ist, dass die andern Kinder, wie schon erwähnt, in den Augen der Mutter nicht der geeignete Umgang sind. Ein weiterer ist, dass die Mutter fürchtet, die vollkommene Kontrolle über ihr Kind zu verlieren, wenn es sich mehrere Stunden mit Freunden oder Freundinnen beschäftigt. Oder die Mutter fürchtet, dass ihr Kind in schlechte Gesellschaft gerät .
    Das sind nur drei Beispiele. Was ich damit sagen will, ist, dass dem Kind der Nährboden des Erlebens und Erfahrens entzogen wird. Viele dieser Kinder verkrüppeln seelisch und emotional, ohne dabei zu Mördern zu werden. Manche werden zu Strebern in der Schule und sind in jedem Fach Spitze, denn irgendwie müssen sie sich ja beweisen, wenn sie schon im Sportunterricht immer als letzte Alternative in die Mannschaft gewählt werden. Viele von ihnen sind aber in ihrem späteren Berufsleben nur einer von vielen. Jemand, der sein Abi mit der Note Eins abgeschlossen und anschließend studiert hat, muss nicht zwangsläufig Karriere machen. Er arbeitet vielleicht als Buchhalter völlig untergeordnet in einer unbedeutenden Klitsche, obwohl er von seinen Fähigkeiten her wesentlich mehr leisten könnte. Warum? Weil diese Menschen nie gelernt haben beziehungsweise nie lernen durften, sich sozial zu integrieren. Aber um zu überleben, haben sie sich ihren eigenen Lebens- oder auch Überlebensraum geschaffen, das heißt, er wurde ihnen geschaffen, und aus dem durften sie nie ausbrechen. « Friedrichsen räusperte sich und nahm einen Notizblock zur Hand. » Wenn ich mir nun das Material anschaue, das Sören mir

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