Unsterblich 04 - Unsterblich wie der Morgen
anderen dort standen. Was nicht der Fall war.
»Woher wissen Sie das?«
Lea unterdrückte ein Lächeln. Der fassungslose Ausdruck auf Victorias Gesicht verriet ihr, dass hier jemand begann, sie ernst zu nehmen. Gut, falls es hier tatsächlich spukte. Dann konnte Victoria ihr vielleicht bei ihrer Arbeit helfen.
»Verzeihen Sie, aber ich dachte, es würde nichts ausmachen, wenn noch ein paar mehr da wären«, entschuldigte sich Victoria. »Aber falls das für Sie ein Problem sein sollte, kann ich natürlich...«
»Nein, nein, das geht schon.« Sie waren inzwischen oben angekommen. »Solange es nicht so viele sind, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann.«
»Soll ich jetzt gehen und mal nachsehen, was hier so rumspukt?«, fragte Liam lachend.
»Was ist so lustig?«, flüsterte Lea. Sie folgte ihrer Gastgeberin durch einen dunklen Korridor.
»Na, dieses Gewäsch von wegen sich konzentrieren. Als ob du mich oder die anderen Geister nicht sowieso hören könntest. Wahrscheinlich sind eher wir es, die dich davon abhalten, dich auf die Lebenden zu konzentrieren.«
»Das reicht, Liam!«, zischte Lea. »Ja, zieh los und schau dich um, okay?«
»Okeydokey.«
Er verschwand. Das hoffte Lea zumindest.
»So, da wären wir.«
Victoria öffnete eine Türe und führte Lea in ein Speisezimmer. Tatsächlich hatte sie hier alles so hergerichtet, wie Lea es ihr aufgetragen hatte. Am entfernten Ende des langen Tisches saßen zwei Leute. Eine blonde Frau mit aufwändig gelocktem blondem Engelshaar. Sie war stark geschminkt und trug ein eng anliegendes schwarzes Schlauchkleid; tatsächlich sah sie aus wie Draculas Braut, fand Lea. Fehlten bloß noch die künstlichen Fangzähne und der malerische Blutstropfen am Mundwinkel. Die junge Frau musterte Lea hochmütig.
Der Mann dagegen war ein ganz anderes Kaliber.
Dass er sie für eine Betrügerin hielt, war offensichtlich. Und dass er nichts von »Geisterbeschwörungen« und Geisteraustreibungen« hielt, ebenso. Aber eins musste man dem Mann lassen, er sah umwerfend gut aus: dunkler Teint, männlich-kantige Gesichtszüge, traumhafte Augen. Sicher hatte er schon viele Frauenherzen gebrochen.
»Madame Foulard, das ist meine Schwester Grace, und das hier ist mein Mann Cem«, stellte Victoria ihr die beiden vor.
Sie zog den Stuhl am Kopfende für Lea zurück, und diese nahm zwischen den beiden Platz, nachdem sie ihnen zugenickt hatte. Lea zog ihren Umhang enger zusammen und bemerkte dabei, wie Grace angeekelt die Nase rümpfte und den Blick abwandte. Gut. Das war so beabsichtigt.
Genau aus diesem Grunde stank ihre Kleidung: damit die Leute den Blick von ihr ab wandten.
»Sagen Sie, Madame Foulard, von wo genau aus Frankreich stammen Sie?«, fragte Cem, während seine Frau an seiner Seite Platz nahm.
Aha, der Hausherr hatte sich also nicht von ihrem Namen überzeugen lassen und wollte sie entlarven? Nun, das überraschte sie nicht.
»Ich wurde zwar in Paris geboren, Mr. Bilen, bin aber nicht in Frankreich aufgewachsen. Ich war noch sehr jung, als meine Eltern starben. Danach lebte ich in Boston, bei einer Schwester meiner Mutter.«
Das klang kurz und ehrlich - sie hatte es lange genug geübt. Lea konnte sehen, dass der Mann noch immer nicht ganz überzeugt war, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie beschloss, das Heft in die Hand zu nehmen.
»Aber es geht hier nicht um mich. Mrs. Bilen, ich meine, Victoria, was hat Sie auf den Gedanken gebracht, dass es hier Geister gibt?«
»Nun ja, ich bin nicht sicher, ob es wirklich Geister sind ...«
Victoria wurde knallrot, was Lea sogar im gedämpften Licht der Kerzen sehen konnte. Ungewöhnlich. Höchst ungewöhnlich. Ihrer Erfahrung nach konnten es die Leute kaum abwarten, ihr all das Seltsame zu erzählen, das sich in ihrem Haus abspielte - unheimliche Laute, Türen, die sich von selbst öffneten und schlössen ... aber dieser Frau schien das Ganze peinlich zu sein. Was ging hier vor?
Schämte sie sich vor ihrem Mann? Fürchtete sie seinen Spott? Lea wusste zwar nicht genau, warum, aber sie bezweifelte es.
»Aha. Ich verstehe Ihre Reaktion,-Victoria. Aber da Sie mich hergebeten haben, muss Ihnen doch irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen sein? Etwas, das Sie davon überzeugt hat, dass es hier spukt?«
Victoria senkte kurz ihren Blick und schaute dann zu ihrer Schwester hin, die mit gerümpfter Nase im rechten Winkel neben Lea saß.
»Ich kann Ihnen sagen, was hier vorgeht«, meldete diese sich temperamentvoll zu Wort, »ich
Weitere Kostenlose Bücher