Unsterbliche Bande
Rule verstand den Anrufer ohne Zweifel sehr gut. Cullen vielleicht ebenfalls, obwohl er weiter weg saß. Ihr blieb nur, den eigenartigen Ausdruck auf Isens Gesicht zu deuten – und die Art, wie Rule plötzlich neben ihr erstarrte.
Isen gab sich außerordentlich höflich. »Ja, das bin ich. Ah. Ja, mein Hirn arbeitet fast wieder normal. Ich kann nicht sagen, dass ich deinen Anruf erwartet hätte, aber es ist nicht die Überraschung, die es hätte sein können.« Es folgte eine lange Pause, als die andere Person sprach. »Nein, ich versichere dir, das habe ich nicht. Du wirst nicht wissen, was mein Wort wiegt, aber du hast es.« Eine kurze Pause. »Ach ja? Interessant … ah. Du weißt aber, dass er … ja, vielleicht. Rule?« Er streckte ihm das Telefon hin.
Rule rührte sich nicht. »Was geht hier vor?«
»Du hast es gehört«, sagte Isen sanft. »Er möchte mit dir sprechen.«
Rule rührte sich immer noch nicht. Langsam sagte er: »Er sagte, sein Name sei Jasper.«
»Jasper Machek.«
»Und er ist …« Der Satz brach ab, als hätte Rule keine Ahnung, wie er ihn beenden sollte.
»Ja«, sagte Isen wie ein freundlicher Arzt wohl gesagt hätte: Ja, die Biopsieprobe wurde positiv auf Krebs getestet. »Ist er.«
Rule nahm das Telefon. »Hier ist Rule.« Eine Pause. »Das sollten wir nicht jetzt diskutieren, denke ich. Du hast Isen gesagt, dass du einen Deal machen willst … ah.« Eine recht lange Pause, dann: »Das verkompliziert die Sache.« Er lauschte wieder, warf dann Lily einen Blick zu und machte eine Geste mit der Hand, als würde er schreiben. »Ja«, sagte er, »einen Moment«, als Lily ein Notizbuch und einen Stift aus ihrer Handtasche holte und ihm reichte. Er kritzelte etwas. »Im Marina District? Das finde ich … Nein. Das kann ich nicht versprechen.« Wieder eine Pause. »Das erkläre ich jetzt nicht. Ich werde jemanden mitbringen, der vielleicht helfen kann … Nein, das ist nicht verhandelbar.« Eine längere Pause. »Nun gut. Ich kann dich falls nötig unter dieser Nummer erreichen? Dann bis später.« Er gab Isen das Telefon zurück und erhob sich so energisch, als wollte er etwas Bestimmtes tun. Doch dann stand er einfach nur da. »Das war der Dieb. Er möchte, dass wir ihm helfen.«
Cullens Brauen schossen in die Höhe. »Ihm helfen?«
»Er hat es nicht weit geschafft mit dem Prototyp, jemand hat ihn ihm gestohlen. Ein erstaunlich begehrter Gegenstand, wenn man bedenkt, dass er nicht einmal richtig funktioniert. Er lebt in San Francisco«, fügte Rule hinzu. »Wir sollen ihn dort um halb zwei treffen. Er wollte, dass Cynna mitkommt – er weiß von ihrer Gabe –, aber das wäre natürlich ein zu großes Risiko für sie.«
»Rule.« Lily stand auf und legte ihm die Hand auf den Arm. »Warum helfen wir diesem Dieb?«
»Tun wir das? Ich weiß nicht … aber wir fahren hin.« Einen langen Moment sagte er nichts. »Es sieht so aus, als wäre er mein Bruder.«
13
Lily sog die frische, kühle Luft durch die Nase ein, während ihre Füße in lockerem Rhythmus auf den Asphalt trafen. Hinter ihr, am Himmel im Osten, glühten Wolkentürme in Purpur- und Violetttönen und färbten die gewölbten Schultern der buckligen Erde. Weiter unten lag Isens Haus verborgen in der Dunkelheit.
Einer der Vorteile, auf dem Clangut zu leben, war, dass es hier so viele Laufstrecken gab. Einer der Nachteile war, dass sie auf der langen Fahrt zur Arbeit in die Stadt häufig im Verkehr stecken blieb. Die Sonne kam erst spät in diese in Berge gebettete Gegend, und Lily war gewöhnlich gezwungen, früh am Morgen zu laufen.
Aber immerhin nicht allein. Vor knapp einem Monat hatte Cynna Lily gefragt, ob es ihr etwas ausmachte, wenn sie ihr zweimal die Woche Gesellschaft leistete. Lily hatte das Angebot angenommen, aber nicht geglaubt, dass Cynna es auch tatsächlich wahr machen würde. Zum einen, weil Cynna eine frischgebackene Mutter war, zum anderen, weil sie Joggen hasste. Hatte sie zumindest immer behauptet.
Aber bisher war Cynna eisern gewesen. Das Häuschen, das sie mit Cullen und ihrer kleinen Tochter teilte, lag ungefähr einen Kilometer westlich von Isens Haus, deshalb hatte Lily diese Strecke für sich, um sich auf dem Hinweg aufzuwärmen und auf dem Rückweg noch einmal richtig Gas zu geben. Sie und Cynna liefen gemeinsam vier Kilometer, das hatte Cynna sich zum Ziel gesetzt. Zwar hatte sie nicht sofort die ganze Strecke geschafft, sondern zunächst an der Stelle, wo sie umkehrten, Lily keuchend und
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