Unsterbliche Küsse
ließ die Blumen zurück und machte sich auf den Weg. Nach ein paar Metern zog er die Karte heraus, die er gekauft hatte. Von der Abtei bis Robin Hood’s Bay führte ein hübscher, gewundener Klippenpfad. Das passte doch bestens.
»Lockige, rötliche Haare. Sie war garantiert da. Sie müssen sie gesehen haben«, sagte Sebastian. Gegenüber dem alten Tattergreis am Eingang zur Abtei hatte er nicht von seiner Verlobten, sondern von seiner Schwester gesprochen, was aber nichts half.
»Ich verkaufe Tickets und schau mir die Leute nicht einzeln an. Außerdem war heute Morgen die Hölle los. Ein ganzer Haufen Schulkinder.« Der Kassenmann schnaubte und zählte weiter Kleingeld.
Sebastian konnte Schulkinder auch nicht ausstehen. Beim Einparken hatte eines einen Pingpongball gegen sein Auto geknallt. »Ich bin mir sicher, sie war hier. Wir wollten uns hier treffen, aber ich bin zu spät dran.«
»Pünktlichkeit, der Herr, ist noch immer eine Zier.« Der Mann präsentierte ein zahnloses Grinsen und wandte sich wieder seinen Zwanzig-Pence-Stücken zu. Sebastian hätte am liebsten eins in seine haarigen Ohren gestopft.
»Ach was, Sie können mich mal.« Sebastian drehte sich um. Der Lehrer, der seine Klasse überhaupt nicht im Griff hatte, lächelte ihn an. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber Sie haben sich doch nach einer jungen Frau erkundigt. Sie ist nicht zufällig Amerikanerin?«
Zufall war gar kein Ausdruck. Sicher war sie die Einzige in dieser gottverlassenen Gegend am Rande der Arktis. »Doch. Sie ist meine Schwester. Ich wollte sie hier treffen. Haben Sie sie denn gesehen?«
»Hab ich. Sie wäre beinahe zu Tode getrampelt worden von meiner Rasselbande und war gar nicht begeistert da-
rüber. Wir kommen aus St. Dunstan in York. Eigentlich sollten wir schon längst unterwegs nach Scarborough sein, aber einer von meinen Kleinen hat seine Uhr verloren, und die müssen wir jetzt suchen.« Er zeigte auf das Gewimmel kleiner Jungs, die das Gras und die Ruinen durchkämmten. »Wenn sie sie zuvor nicht kaputttrampeln.«
Natürlich interessierte ihn das nicht; trotzdem zeigte er sein normalerweise nur für die wohlhabendsten Klienten reserviertes Lächeln. »Sie haben Dixie gesehen? Wunderbar! Wahrscheinlich hatte sie gar nicht mehr mit mir gerechnet.«
»Sie hat sich nicht lange aufgehalten. Ist noch vor unserem Lunch auf dem Klippenpfad entschwunden. Zurückgekommen ist sie, soweit ich weiß, nicht.«
Sicher war sie nicht zurückgekommen. Die Alte von der Pension hatte recht. »Ist das der Weg nach Robin Hood’s Bay?«
»Genau, sehr hübsch, wir sind ihn auch schon gegangen. Nur leider ist damals einer von den Kleinen abgestürzt, und wir mussten die Küstenwache rufen. Seitdem hat der Direktor den Weg verboten.«
Diese Gelegenheit war ein Geschenk des Himmels. Sebastian sang ein lautloses Hallelujah. Bald würde es zu einem weiteren Absturz kommen, aber er würde keine Küstenwache bemühen.
»Sir!«
»Wir haben sie. Wir haben Jenkins’ Uhr gefunden, Sir!«
»Binn hat sie gefunden, Sir!«
Gefolgt vom Rest der Truppe, preschte ein halbes Dutzend kleiner Jungs mit lautem Gejohle und Geschrei voraus, an der Spitze Binn, der, soweit das Gedränge es zuließ, seinen Fund jubelnd in der Luft schwenkte. Nachdem die mittlerweile völlig verdreckte Uhr dem Eigentümer zurückgegeben war, rief der Lehrer seine Gruppe zusammen. »Sind das jetzt alle? Hoffe ich doch. Wir gehen jetzt zum Bus, und sollte noch jemand was verlieren, vermachen wir’s den Möwen.«
Der Bus fuhr ab. Sebastian verdrängte die Erinnerung an seine eigene lausige Schulzeit, nicht ohne sich auszumalen, wie Jenkins nun wohl auf der ganzen Fahrt bis Scarborough gehänselt würde. Würden sie sich hinten im Bus auf seinen Kopf setzen, während der Lehrer vorne gemütlich rauchte, ungeachtet der Quälereien hinter seinem Rücken? Oder würden sie ihm die Schnürsenkel herausziehen, um ihm damit die Daumen auf dem Rücken zusammenzubinden?
Sebastians Schulzeit war lange vorbei, und er hatte eine dringende Aufgabe zu erledigen. Aus dem Kofferraum seines Wagens kramte er ein Fernglas unter dem Reserverad hervor. Schade, dass er keine Turnschuhe mitgebracht hatte, aber in dem Fall würden es halt seine Brogues tun müssen. Danach würde er sich einfach ein Paar neue gönnen. Er würde diesen halb verlassenen Pfad mit dem Fernglas absuchen, bis er sie gefunden hatte, um sie sich dann vorzuknöpfen.
Während er das Auto absperrte, blickte er auf und
Weitere Kostenlose Bücher