Unsterbliche Küsse
nicht einmal, wie weit es noch ist.«
Die dunkle Gestalt trat aus dem Nebel. Dixie erstarrte vor Schreck und Panik und blieb drei endlose Sekunden lang wie angewurzelt stehen. »Überhaupt nicht mehr weit«, sagte Sebastian und packte sie, direkt unter der Schulter, an den Armen.
Der schmerzhafte Griff seiner Finger und ein Blick in seine hasserfüllten Augen rissen sie aus ihrer Angststarre. Sie schrie, aber ihre Schreie hallten wie ein Echo im Nebel zu ihr zurück. Sie wand sich und trat mit den Füßen um sich, aber seine Hände packten nur umso fester zu und ihre Füße glitten immer näher an den Abgrund.
»Zu schade, dass wir dich loswerden müssen.«
Waren es Tropfen aus dem Nebel oder Spucke, was sie da eben getroffen hatte? Egal. Jetzt erst recht. Sie wehrte sich weiter, erhob das rechte Knie gegen ihn, aber er war schneller. Mit dem rechten Bein wehrte er den Schlag ab und versetzte ihrem linken Bein einen Hieb, sodass sie das Gleichgewicht verlor. Sie taumelte nach hinten, wobei er sie noch weiter zum Abgrund schubste. Stechginster und Brombeergestrüpp zerkratzten ihre Fesseln. Ihre Füße baumelten bereits frei in der Luft, als sie die Arme hob, um ihm das Gesicht zu zerkratzen. Ihr Herz raste, und ihr Gesicht war schweißüberströmt.
Sie schlug panisch mit den Füßen, versuchte ihn an den Knien oder den Schienbeinen zu treffen und wieder festen Boden zu gewinnen. Eine Zehe verfing sich an einer Wurzel oder einem Stamm. Ein Fünkchen Hoffung stieg in ihr hoch, das aber schnell wieder verflogen war, als der andere Fuß über den Abgrund ragte. Er schubste sie nach hinten, und das Gewicht ihres Rucksacks zog sie zu Boden. Ihr Kopf fiel in den Nacken. Ihre Beine schnellten nach oben, sie geriet in einen Taumel, alles drehte sich, schwarze Umrisse wirbelten schemenhaft vor ihren Augen, und sie spürte die Kälte, auf die sie zusauste.
Sie schrie, aber im freien Fall raubte ihr der Luftwiderstand den Atem. Sie sah Gestein auf sie zukommen, und sie prallte ab. Rasende Schmerzen in der Hüfte und im Bein ließen sie abermals schreien. Der Hall drang nach oben, und sie fiel weiter in die Tiefe. Der Nebel lichtete sich, die Brandung prallte gegen den schwarzen Fels. Gischt und Salz brannten in ihren Augen.
Zwischen Felsen und schäumenden Fluten erwartete sie der Tod.
Christopher hörte den von den Klippen widerhallenden Schrei und stürzte sich mit weit ausgebreiteten Flügeln in die Tiefe. Seine Augen, nicht gewöhnt daran, frei fallende menschliche Körper im Nebel zu erkennen, suchten die Felsen und das Wasser ab. Da brach der Schrei ab, und die Stille machte seine letzte Hoffnung zunichte. Er tauchte ab, bereit, gegen Felsen und Wellen anzukämpfen, nur um sie zu finden. Mit Justin im Schlepptau kämmten sie zusammen den ganzen Küstenstreifen ab, tauchten in jede Bucht und in jeden Felseinschnitt. Sie musste ganz in der Nähe sein. Im Küstennebel trug der Schall nicht weit.
Da lag sie, mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem schlüpfrigen Fels wie eine leblose Puppe. Ihre Glieder waren zerschmettert, die Haut aufgeschürft und ihr kastanienfarbenes Haar klebte auf der schief im Gesicht sitzenden Nase. Ohne es zu bemerken, nahm Christopher menschliche Gestalt an, als er sie in die Arme nahm. Wider Erwarten atmete sie noch, flach, rasselnd, unter gebrochenen Rippen; ihr Puls flackerte wie die letzte Glut eines verglimmenden Feuers. Ihr Lebenssaft floss dahin wie die letzten Töne einer verklingenden Symphonie, und trotzdem pumpte ihr törichtes Herz unverdrossen weiter.
Über die grauen Randzonen seines Bewusstseins hinweg hörte er Schreie – heftige, angsterfüllte Schreie, die er als Echoschläge seines gequälten Herzens wahrnahm. Gestern Abend hatte er Dixie abgeblockt, nachdem sie auf der Suche nach ihm das ganze Land durchquert hatte, und nun kam er zu spät, um ihr zu helfen.
Justin ging neben seiner Schulter nieder. Seine Gestalt als Papageientaucher hatte er noch beibehalten, aber ihre Gedankenkreise schlossen sich zusammen. »Ich schaue, wo ich eine Telefonzelle finden kann, um die Küstenwache zu rufen. Bleib du bei ihr.« Justin unterbrach. »Sollte sie sterben, ist sie dein.«
Sein Herz füllte sich mit Wärme, Licht und neuer Hoffnung, aber in seinem Kopf braute sich das genaue Gegenteil zusammen. Die wahren Qualen der Unsterblichkeit befielen ihn und machten jegliche Hoffung zunichte. Er besaß den Schlüssel zur Unsterblichkeit, durfte ihn aber nicht einsetzen, es sei
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