Unsterbliche Küsse
ihre Geschmacksknospen und floss ihre Kehle hinunter. Sie labte sich an diesem lebendigen Geschmack, und ihre Zähne bissen sich mehr und mehr fest, ungeachtet dieses langsam verebbenden Wimmerns. Sie berauschte sich an seinem Lebenssaft, an dessen Geschmack, Duft und Wärme. Dabei verlor sie alles Zeitgefühl. Dauerte es eine Minute, oder vielleicht fünf oder eine Stunde? Ihr Opfer hatte den Kampf längst aufgegeben und lag wie leblos unter ihr. Gesättigt und trunken von der Kraft und Fülle, die sie aufgesaugt hatte, ließ sie von ihm ab.
Und dann wurde ihr klar, welchen Geruch sie schon im Haus der Collins’ und im Pub in der Nase gehabt hatte – den süßen und schweren, nicht unangenehmen, aber ungewöhnlichen und für sie neuen Geruch von Menschenblut.
Sie kniete auf irgendeiner Straße im Mondschein, unter ihr James Chadwick kraftlos auf dem Rücken liegend. Sie sprang hoch und sah sich um, ob nicht von irgendwoher ein Traktor oder eine Herde von Kühen käme. Aber da war nichts zu sehen. Noch nicht. Plötzlich erschrak sie. Wenn sie ihn nun getötet hatte? Sie bückte sich schnell und tastete nach seinem Puls. Er war vorhanden, schwach, aber immerhin. Sie lächelte. Die Strafe für seine Untaten würde er noch erleben.
Wenn er nicht vorher überfahren wurde.
Sie hob seinen schlaffen Körper mühelos hoch, als würde sie eine Einkaufstasche schultern, und sprang über die Hecke, um ihn auf der anderen Seite abzulegen. Er stöhnte, und sie bemerkte, nicht ohne Befriedigung, dass er in einem Kuhfladen gelandet war. Dreck war ja sein Metier.
Sie trat einen Schritt zurück und streckte die Arme nach oben.
Ein Sturm fegte durch sie hindurch. Sie spürte neue Energie, neue Kraft und neues Leben in sich einströmen wie einen gigantischen Adrenalinstoß. Nun könnte sie Berge erklimmen, über Hausdächer springen oder sich vom Turm von St. Michael’s herabschwingen. Zunächst jedoch rannte sie nach Hause, indem sie über Tore sprang, Straßen in einem Satz überquerte und in Windeseile über Felder lief, bis sie Orchard House erreichte und durch die Haustür hineinschlüpfte. Ein flüchtiger Blick in den goldgerahmten Spiegel zeigte ihr nichts als die verblichene Streifentapete der Diele und die offene Wohnzimmertür im Hintergrund.
Jetzt war sie eine richtige Vampirin! Sie hatte die letzte Hürde genommen, vor der sie sich so gefürchtet hatte. Mit angezogenen Knien saß sie auf der untersten Treppenstufe, und dachte darüber nach, was Ida gesagt hatte, und wie sie es beweisen könnte. Und sie dachte an den unglaublichen Genuss, den sie beim Saugen empfunden hatte.
Würde sie es wieder wagen?
Ja! Ja! Ja!
Der Gedanke erschreckte und beglückte sie zugleich.
Nun kannte sie auch die Hintergründe dieses schrecklichen Verbrechens. Sie musste sich nur noch entscheiden, wie sie mit diesem Wissen umgehen würde. Sollte sie Sebastian mit der Wahrheit konfrontieren, oder James einschüchtern, bis er singen würde wie ein Kanarienvogel? Oder sollte sie darauf bestehen, dass Ida und Emily zur Polizei gingen?
In ihrem Kopf drehte sich alles. »Christopher, ich brauche deine Hilfe«, sagte sie, schloss die Augen und drückte ihre Stirn gegen die Knie.
»Hier bin ich, Liebes. Was kann ich für dich tun?«
Er stand beinahe direkt vor ihr und strahlte sie an, mit Augen, die wie die Sterne am Nachthimmel funkelten. Zum Glück war sie nicht schockiert und perplex vor seinen Füßen zusammengebrochen. Seinem Gesichtsausdruck zufolge hätte er das durchaus genossen. »Wo kommst du denn her?«
Er zog ein säuberlich gefaltetes Leinentaschentuch hervor. »Da. Für deinen Mund.«
»Was?« Ahnungsvoll benutzte sie das Taschentuch und erstarrte, als sie die blütenweiße Oberfläche mit Blut befleckt sah.
»Die Etikette gebietet es, dass man sich nach dem Saugen den Mund abwischt«, sagte er, faltete das Taschentuch wieder zusammen und setzte sich neben sie auf die Treppe. »Ganz abgesehen von der Gefahr, dass die Blutreste Sterbliche verunsichern könnten. Beim Anblick blutverschmierter Lippen und Fangzähne denken die doch gleich immer an Holzpflöcke und Knoblauch.« Vampirwitzeleien. Okay. »Deine Hauer musst du auch einziehen.«
»Was?« Ein Test mittels Zunge ergab, dass ihre Eckzähne mindestens doppelt so lang waren wie normal. »Und wie mach ich das?«
»Du musst sie nur zurückdenken.«
Bereits der zweite Versuch war erfolgreich. »Ich bin nach wie vor fasziniert, was ich mit purer Geisteskraft bewirken
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