Unsterbliche Küsse
Selbstvertrauen und ihr Elan brauchten dringend einen Dämpfer, und den sollte sie bekommen. Und zwar dauerhaft. Dieser »Experte« war zwar nicht billig gewesen, aber Sebastian sah darin eine Investition für die Zukunft.
Christopher bekam alles mit: die Würmer in der Erde, das Kreischen der Möwen, wenn sie mit gespannten Flügeln auf die Klippen zusegelten, und jede Welle, die unten gegen die Felsen schlug. Und nun tauchte Justin auf. Warum?
»Willst du mich kontrollieren?«, fragte er, sobald sich Justin verwandelt hatte.
»Blödmann!«, erwiderte Justin und strich sich die Falten aus den Ärmeln. »Ich bin gekommen, um dir bei deinem Winterschlaf Gesellschaft zu leisten. Du hast keine andere Wahl, und das weißt du. Auch wenn du glaubst, du kannst nicht.«
Christopher wandte sich um. »Du hast leicht reden. Ich brauche nur die Augen zuzumachen, und schon sehe ich sie. Ich rieche sie. Ich schmecke sie.«
»Und jede Stunde, in der du wach liegst, verzögert deine Gesundung.«
»Mir doch egal! Wozu soll ich denn genesen? Ich bin hier nur untergetaucht, damit Dixie nichts zustößt. Wenn ich geblieben wäre, hätten sie mich über kurz oder lang gefunden. Und dann wäre Dixie gleich mit dran gewesen.«
Christopher wollte sich aufsetzen, aber Justins Hand hielt dagegen. Er war sehr schwach. Dieser letzte Flug hatte ihm beinahe den Rest gegeben. »Du willst doch nicht, dass sie sich umsonst für dich aufgeopfert hat. Sie hat dir ihr Blut gegeben. Vergiss das nicht.«
»Als ob ich das vergessen könnte!«
»Willst du es denn vergessen?« Justin flüsterte beinahe, ein Flüstern, das in der unterirdischen Gruft und bis in Kit Marlowes Herz hinein widerzuhallen schien.
»Niemals!«
»Dann schlaf und ruh dich aus, damit deine Erinnerung wach bleibt.«
»Justin, du würdest jeden Jesuiten im Streitgespräch besiegen.«
Justin strich seine Manschetten glatt. »Hab ich schon, und zwar öfter. Kit, du brauchst Ruhe, du hast keine Ahnung, wie ausgelaugt du bist.«
»Klar hab ich das, Blödmann! Ich bin schwächer als jeder Frischling, fast so schwach wie damals als Sterblicher. Aber ich kann nicht schlafen, ehe ich die Gewissheit habe, dass sie sicher nach Hause zurückgekehrt ist. Jemand muss dafür sorgen, dass sie dieses verdammte Flugzeug besteigt.«
»Gut, Kit, ruh du dich aus, und ich werde mich um unsere Freundin Dixie kümmern.«
»Du?« Christopher drehte sich zu Justin. »Nachdem du mir immer von Distanz gepredigt hast, und dass man sich mit Menschenwesen nicht einlassen darf?«
Justin zuckte mit den Schultern. »Ich verdanke dieser Menschenfrau, dass einer meiner Freunde weiterexistiert. Im Übrigen bin ich wie du der Meinung, dass sie von hier fortmuss.«
Christopher legte sich wieder auf die weiche Erde. Schon das Sitzen strengte ihn zu sehr an. »Justin, wenn du das für mich tun könntest …«
»Ich weiß, du wirst mir zu ewiger Freundschaft verpflichtet sein.« Er hielt inne. »Und ich habe mir immer gedacht, die hätte ich mir schon in Deptford verdient.«
»Brichst du jetzt gleich auf? Und kümmerst dich um sie?«
»Nicht gleich. Ich kann mich in den nächsten Stunden hier nicht blicken lassen. Die Abtei ist wider Erwarten nicht leer. Vorhin habe ich mich verwandelt, ohne zuerst die Lage zu peilen, und dabei habe ich wohl ein paar Camper erschreckt. Einer stürzte prompt die Klippen hinunter.« Er hob besänftigend eine Hand, als Christopher hochfuhr. »Keine Bange. Ich raste sofort im Sturzflug hinterher und legte ihn am Fuß der Klippe ab. Zum Glück hatte er zuvor so viel Boddingtons konsumiert, dass er von der Sache nicht viel mitbekam.«
»Zum Glück für ihn habe ich aufs Meer hinausgesehen. Ich hätte auch gleich, ohne mich umzusehen, in die Gruft steigen können. So ist alles gut gegangen. Als ich wieder oben war, rannte sein Kumpel gerade weg, offenbar um zu telefonieren. Im Moment haben wir gerade Flut, und ich nehme an, es wimmelt draußen von Rettungsmannschaften und Booten der Küstenwache. Da bleibe ich die nächsten Stunden lieber hier. Man will ja nicht ins Gerede kommen.«
Dixie zog ein zweites Sweatshirt über, aber ihr wurde trotzdem nicht richtig warm. Noch am Tag zuvor war sie in Christophers Armen gelegen und heute war sie ganz allein. Das gestrige Zusammensein mit ihren neuen Freunden zeigte ihr nur umso deutlicher, wie einsam sie war – und auf Dauer wohl auch bleiben würde. Sie hatte Christopher nicht nur ihr Blut verabreicht, sondern ihr Herz gleich
Weitere Kostenlose Bücher