Unsterbliches Verlangen
wäre bei einem solchen Kleid schlicht geschmacklos gewesen.
Pru stieg in ihr Gewand, und ihr Herz hämmerte, als Fanny es ihr über die Schultern zog. Was für ein Jammer, ein Kleid wie dieses an Männer zu verschwenden, die wahrscheinlich gar nicht bemerkten, wie hübsch es sich an ihren Oberkörper schmiegte oder ihren Busen hob! Dennoch wollte Pru es tragen. Mochte man sie gefühlsduselig schelten, aber Gott allein wusste, ob sie je wieder Gelegenheit hätte, es anzuziehen.
»Sie sehen richtig bezaubernd aus, Miss«, sagte Fanny scheu.
Pru lächelte. ja, sie sah bezaubernd aus. Außerdem sah sie gesund aus, so rosig, wie ihre Wangen leuchteten. Sie wirkte selbstbewusst und nicht wie eine Frau, die sich von Herren einschüchtern ließe, welche ihr das Wunderhellmittel wegnehmen wollten - oder auch nicht.
Derart gestählt verließ sie ihr in warmen Blau-und Dunkelrottönen gehaltenes Zimmer und ging den Korridor entlang zur geschwungenen Treppe, die ins Erdgeschoss hinunterführte. Womöglich war das Kleid doch keine gute Idee gewesen. Sie wollte schließlich nicht, dass die Priester dachten, sie würde sich über sie lustig machen. Aber es war solch ein wunderschönes Kleid ...
Ach, zum Teufel mit ihren Bedenken! Sie hatte es jetzt an, und das Leben war zu kurz, um mit der Farbe eines Gewands zu hadern, das außer ihrer Familie und ein paar Priestern ohnehin niemand zu sehen bekam.
Alle Augen richteten sich auf sie, als sie in den Salon trat. War das ihr Vater, der hörbar den Atem anhielt? Matilda starrte sie an, als fürchtete sie, dass Pru vollends den Verstand verloren hatte. Wie auch sonst war Matilda selbst in ihrem Spitzenkleid aus rosa Chiffon doch der Inbegriff englischer Unaufdringlichkeit. Caroline in hellem Elfenbein war gleichfalls eher dezent gewandet. Einzig Georglana hatte eine kräftigere Farbe gewählt - Pru konnte sich stets auf Georgiana verlassen - und stand lächelnd in einem Kleid da, das die Farbe von Tigerlilien hatte.
Die Farbe allein jedoch, auch wenn Pru sie zuvor noch niemals getragen hatte, war es nicht, was ihr heutiges Kleid so ausgefallen machte. Es war zudem äußerst feminin geschnitten, regelrecht gewagt, und seit langer, langer Zeit hatte Pru sich nicht mehr wie eine Frau ihres Standes herausgeputzt. Sogar Marcus schien beeindruckt.
Aber Pru interessierte eher, wie die Herren reagierten, die sie nicht kannten. Sie betrachtete die kleine Gruppe, als ihr Vater sie zu sich rief, und entdeckte lediglich ein neues Gesicht. Dabei handelte es sich um das eines älteren Mannes mit grauem Haar und freundlichen Augen. Sein Kragen verriet seinen Beruf.
»Pater Molyneux, dies ist meine jüngste Tochter Prudence. Sie ist diejenige, die diese, ganze Geschichte in Gang gebracht hat.«
Pru sah ihren Vater halb lächelnd, halb fragend an. War das Lob oder verhaltener Tadel in seinem Ton?
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mademoiselle.« Der Priester hatte eine tiefe beruhigende Stimme und sprach mit einem starken, jedoch angenehmen Akzent.
Lächelnd reichte sie ihm die Hand. »Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, Pater.« Zu ihrem eigenen Erstaunen tat sie es wirklich. Vielleicht war sie einfach naiv, aber dieser Mann hatte gar nichts Einschüchterndes.
»Und wo ist Ihr Gefährte? Soweit ich hörte, sollten wir zwei Gäste haben.« Pru blickte sich um, konnte jedoch kein weiteres fremdes Gesicht entdecken.
»Ja«, antwortete Molyneux, »mein Freund musste vor die Tür gehen, um seiner lästigen Angewohnheit zu frönen - dem Rauchen.« Er blickte über Prus Schulter. »Ah, Chapel, da sind Sie ja!«
Neugierig auf ihren zweiten Gast, drehte Pru sich um.
Heiliger!
Mr. Chapel war groß - außergewöhnlich groß - und trug einen schwarzen Gehrock sowie eine schwarze Hose zu weißer Weste, weißem Hemd und weißer Krawatte. Seine Stirn war hoch, seine Nase lang und gerade. Die Lippen waren weder schmal noch voll, sondern angenehm wohlgeformt und sinnlich. Wangen und Kinn wirkten wie von einem begnadeten Bildhauer gemeißelt. Was Pru allerdings am meisten fesselte, waren seine Augen. Selbst aus der Entfernung strahlten sie hell und klar wie Honig.
Guter Gott, sie starrte den armen Mann an! Und er starrte sie an, so dass ihr unbehaglich heiß wurde.
»Mr. Chapel«, stellte ihr Vater vor, »darf ich Sie mit meiner Tochter Prudence bekannt machen?«
Ein wenig benommen dachte Pru zum Glück daran, ihm ihre Hand zu reichen, die er in seine viel größere nahm.
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